Kategorie: Akademiereden

  • 4. Akademierede: Zur Eröffnung der Ausstellung „participant observer – LENI SINCLAIR“

    Danach kam sehr, sehr viel Arbeit, zu lösende Probleme, und viele überraschende Einblicke. Nach all diesen Monaten kommt es mir vor, als kennen wir uns schon lange – Leni, John, die Leute in der Hill Street. Dabei sehen wir uns hier zum ersten Mal.

    Hallo Leni, wie schön, daß Du hier bist.

    Am Anfang stand eine zufällige Begegnung von Moritz Götze mit Leni Sinclair in Detroit, und etwas später die Frage: kann und will die Akademie der Künste Sachsen-Anhalt diese Ausstellung planen und organisieren. Leni Sinclair, der Name war mir bis dato nicht begegnet. Aber nach kurzer Beschäftigung mit dem Thema war klar: diese Ausstellung sollte hier und vor allem jetzt gemacht werden. Je tiefer wir in die Welt dieser Fotografien eintauchten, umso mehr waren wir im Bann der Geschichten, Ereignisse und Personen, die durch die Fotos erzählt werden. Wir fanden Menschen, die erfüllt waren von Träumen, Ideen und Idealen, die bereit waren für diese zu streiten und zu kämpfen.
    Magdalena Arndt war 1945 aus Königsberg geflohen, und mit ihrer Familie in Vahldorf bei Magdeburg gelandet, wo sie nach Kriegsende ein neues Zuhause fanden. Hier verlebte sie ihre Kindheit. Hier beginnt sie Radio zu hören, Radio RIAS Berlin, Radio Luxemburg, Jazz, Rock ’n‘ Roll, Harry Belafonte, Louis Armstrong, Ella Fitzgerald …

    Die Sehnsucht, welche Magdalena Arndt (die spätere Leni Sinclair) die kleine DDR verlassen ließ, kennen alle, die in dieser DDR aufgewachsen sind. 1958 verläßt sie die DDR, 1959 kommt sie an Bord des S. S. United States in New York an. Von dort geht sie nach Detroit, wo Verwandte leben. Im Gepäck hat sie eine kleine Kamera (eine Taxona aus Dresden).
    Als Studentin kommt sie schnell in Kontakt mit der Szene in Detroit, den Beatniks. 1964 lernt sie hier ihren späteren Ehemann John Sinclair kennen. Da ist sie bereits fest engagiert in der Anti-Atomkraft-Bewegung, sie arbeitet mit am radikalen Monteith Journal, wird Mitglied der Vereinigung der Students for a Democratic Society.

    Im selben Jahr ist sie beteiligt an der Gründung des Detroit Artist Workshop. Ausstellungen, Dichterlesungen und wöchentliche Jazzkonzerte machen den Detroit Artist Workshop schnell zum Hotspot für Künstler und Musiker wie Lyman Woodard, Ron English, den Schlagzeuger Danny Spencer, den Saxophonist Larry Nozereo und vielen anderen.
    Leni Sinclair wird zunehmend zur fotografischen Chronistin dieser Zeit. Neben Fotografien von Musikern wie John Coltrane, Thelonious Monk, Miles Davis, Cecil Taylor und Charles Mingus entstehen zahlreiche Fotodokumente vom politischen Kampf um Bürgerrechte, die Beendigung des Vietnamkriegs, vom solidarischen Kampf der White Panther Party (später  die Rainbow People’s Party) für die Rechte schwarzer Mitmenschen.

    Die Ausstellung mit den Fotografien Leni Sinclairs zeigt, wie eng verwoben die politischen Initiativen und Aktionen mit den Ideen der Künstler und Poeten, und mit der Musik gewesen sind. Die vielfältigen Aktivitäten der Gruppe, die Arbeit des Detroit Artist Workshop, die Gründung der „Free University Detroit“, die politische Arbeit in Detroit haben alle die gemeinsame Grundlage der Ideen von Künstlern wie Ezra Pound, Charles Olson, Robert Creeley, von Allen Ginsberg, und vielen anderen.

    Poesie und Musik war hierbei alles andere als Background, sie war treibende Energie und künstlerischer Ausdruck des gemeinsamen Lebensgefühls und der Sehnsucht einer Generation nach Freiheit und Gerechtigkeit.

    Der Grande Ballroom in Detroit und seine beiden Hausbands, der MC5 und die UP, wurde mit seinen legendären Konzerten das musikalische Nervenzentrum der Gemeinschaft. „Rock ’n‘ Roll, Dope and Fucking in the Streets“ wurde zum Kampfruf des MC5.
    Die Freiräume für all dies wurden voller Selbstbewußtsein erkämpft, eingefordert und verteidigt. Die selbstermächtigten Aktivitäten vereinten eine wachsende Gruppe von Aktivisten mit einem großen Umfeld an Sympathisanten und Mitstreitern. Welche Energie eine solche Gemeinschaft entfalten kann, und welche starke politische Kraft sie werden kann, wird deutlich, wenn man sich ansieht, wieviel Einfluß am Ende davon ausging auf kulturelle und politische Prozesse.

    Brennende Themen der Zeit wie rassische und sexuelle Diskriminierung, Ökologie, Mietkontrolle, kostenlose medizinische Versorgung, Legalisierung von Canabis, Rechte von Homosexuellen und freie Meinungsäußerung wurden in die offizielle öffentliche Debatte eingebracht, und neue Gesetze wurden verabschiedet.

    Tatsächlich haben die Bewegung und ihre kulturelle Komponente massive Veränderungen im Grundgefüge der amerikanischen Gesellschaft bewirkt, die auch Jahre später noch Bestand haben.

    Meßbar ist die Kraft dieser Bewegung auch daran, wieviel Aktivität von Seiten des politischen Establishments entfaltet wurde, die Akteure der Bewegung zu überwachen, auszuspionieren, und die Gemeinschaft durch Infiltration in verfeindete Gruppen zu spalten.

    Die Ausmaße der Überwachung werden erstmals bei einer 1975 eingereichten ersten Klage bekannt. Mehr als 30 Polizisten waren mit einem 770.000 Dollar-Budget pro Jahr im Einsatz, 50000 Überwachungsprotokolle wurden damals bekannt, 1990 sind es 1,5 Millionen. Das probate Mittel der Spaltung von politischen Gruppen ist bis heute gebräuchliche Praktik von Regierungen, progressive Bewegungen zu entschärfen um einen überlebten Status Quo zu erhalten.

    Die Bilder der Ausstellung erzählen eine Geschichte, die über die tatsächlichen Ereignisse und ihre Hintergründe hinaus geht: Sie zeigen nicht nur davon, was gewesen ist, sondern sie öffnen uns ein kleines Fenster auf das, was möglich wäre.
    Leni Sinclair war ihr Leben lang als Aktivistin und als fotografische Zeugin in unzähligen Initiativen aktiv beteiligt. Mit zahlreichen Musikern und Künstlern verbindet sie eine lebenslange Freundschaft. Ihre Fotografien zeigen uns eine Zeit, als aus Gemeinschaften noch nicht Netzwerke geworden sind. Diese Art von Gemeinschaft wurde gelebt und ihr Anspruch auf Selbstbestimmung zelebriert und erkämpft.
    Heute ist Leni Sinclair hier unter uns. Und ich möchte Euch alle herzlich einladen die Möglichkeit zu ergreifen mit ihr ein Gespräch zu beginnen.
    Die Ausstellung findet auf zwei Etagen statt. In der oberen Etage gibt es eine Musikstation, wo man sich Schallplatten anhören kann.
    Zur Ausstellung ist ein Buch mit einem Text von Jane Wegewitz erschienen, welches zum Preis von 30,- € erworben werden kann.

    Eine kleine Edition ausgewählter Fotografien von Leni Sinclair kann als signierter fotografischer Handabzug erworben werden.

    Der Titel unserer Ausstellung stammt von Leni Sinclair selber: participant observer.
    Irgendwo las ich ein Zitat von ihr, mit welchem ich hier enden möchte: „Ich konnte ja nur in den Momenten fotografieren, in denen ich nicht tanzte.“

    Wir bedanken uns:

    Für Finanzielle Förderung und Unterstützung

    • – Beim Land Sachsen-Anhalt
    • – Bei der Stadt Halle
    • – Der Piratenpartei
    • – Bei Thomas Krech
    • – Und dem Literaturhaus Halle
    • – Bei Leni Sinclair für inhaltliche Hilfestellungen
    • – Bei Dietrich Oltmanns für die fotografische Herstellung der Handabzüge der Fotos
    • – Bei Jane Wegewitz für den wunderbaren Text unseres Buches
    • – Bei Lorraine Wild für die Bereitstellung der Negative
    • – Bei Peter Moltmann fürs Korrekturlesen
    • – Bei Clara Hofmann für die Öffentlichkeitsarbeit
    • – Bei Ute Lohse, Jörg Wunderlich, Wieland Krause, Lars Petersohn und Angelika Schade für Hilfe beim Ausstellungsaufbau
    • – Und beim Mitteldeutschen Verlag für sein Vertrauen in unser Projekt

    Liebe Leni. Die Akademie der Künste Sachsen-Anhalt möchte Dir die Ehrenmitgiedschaft anbieten und Dich einladen, in einen lebendigen dauerhaften Kontakt zu unserer Initiative zu treten. Vielleicht ist deine Gemeinschaft seinerzeit in Detroit und Ann Arbor gar nicht so unähnlich zu dem, was wir hier, unter ganz anderen Bedingungen, aber immerhin doch auch versuchen. Wir sind keine große Institution, sondern ein selbstermächtigtes Projekt von freien Künstlern dieses Landes. Wir kämpfen mit zahllosen Problemen und Schwierigkeiten, und versuchen dennoch immer wieder als Gemeinschaft aktiv zu werden. Sehr gerne wollen wir von Deinen Erfahrungen lernen.

    Es wäre uns eine Ehre, Dich als Ehrenmitglied begrüßen zu dürfen.

     

    T.O. Immisch

  • 3. Akademie-Rede anläßlich der Eröffnung der Ausstellung Almanach 04, und des fünften Gründungsjahres des Akademie-Projekts, von Clara Hofmann

    Ich zitiere einzelne Stimmen von den Personen, die am 10.01.2014 zusammenkamen: Die Akademie solle zu geistigem Austausch einladen, Symposien organisieren, Formen der Kommunikation entwickeln, die Öffentlichkeit suchen, geistigen Austausch fördern, die Situation der zeitgenössischen Kunst analysieren, Missstände benennen und über die Region hinaus wirken. – Sie sei ein Bild von Sokrates und seinen Schüler*innen unter dem Olivenbaum. Tatsächlich waren bereits in der ersten sogenannten Akademie Frauen Teil des Diskurses auf dem nach einem Heroen benannten und von Platon erworbenen Hain. – Eine Akademie tritt für die Würde ihrer Mitglieder ein. Sie ist eine Mittlerin. – Akademie könne eine Form für die Freiheit sein, ein Organ für die Kunst, denn Freiheit der Kunst meint nicht die Freiheit ehrenvollen Verhungerns. Die Akademie sei ein Instrument. Sie verleiht ein Sprachrecht. – Jeder Ort könnte temporär zu einem Ort der Aktion der Akademie umgewidmet werden. Biblisch gesprochen: Die Akademie ist dort, wo wir sind. Kein Gebäude, keine Institution, keine Ortsbindung: eine Gruppe. – Die Akademie sei als Prozess zu begreifen. Wir müssten sie mit Ideen füllen. Die Struktur kommt später.

    5 Jahre Akademie der Künste Sachsen-Anhalt, 4 Almanache, 3 Zeitschriften, 3 Ausstellungen, zahlreiche Akademiebier später stehe ich hier anlässlich einer Ausstellungseröffnung zu sprechen. Obwohl es bei dem erwähnten Treffen vor 5 Jahren beinahe zur Pflicht erhoben wurde, in der Akademie ehrwürdige Bärte zu tragen, kann ich immer noch keinen vorweisen, so sehr ich mich auch bemüht habe. Die Akademie ist noch immer Prozess.

    Wie Raphaels Schule von Athen in den vatikanischen Stanzen suggeriert, verstehen wir unsere Akademie als ebenbürtigen Dialog auf Grundlage unserer jeweiligen Arbeit – aus unterschiedlichen Disziplinen kommend; mit unterschiedlichen Auffassungen und unterschiedlichen Hintergründen; mit sich gleichenden Fragen, mit dem Wunsch nach Auseinandersetzung und einiger Lust am Streit. Ein späterer Schüler und Erneuerer der Akademie war Cicero, der ein damaliges Schisma in der Akademie zu vereinen wusste. Drei Wesenszüge der Akademie waren für ihn als Skeptiker zwischen Rhetorik und Philosophie wichtig: Eklektizismus, Tradition und Probalismus. Ich wünsche unserer Akademie genau dieses fruchtbare Aufeinandertreffen nach wie vor gültiger Vorzüge: Eklektizismus im Sinne einer Vielfalt und Flexibilität, Tradition natürlich im Sinne eines Fortbestehens in der Zukunft, aber auch eines Blickes über die eigenen Kontexte hinaus und Probalismus, als Negation der Existenz einer allgemeinen Wahrheit, als Offenheit für die Suche und Grundlage zur Diskursfähigkeit.

    Als Diskurs begreife ich auch die Reihe an Almanachen, die seit vier Jahren beginnt. Zwischen den bisher schlichten Pappdeckeln dieser Jahrbücher bündeln sich Dialoge zwischen einzelnen Stimmen unserer Zeit zu den jeweiligen Titeln. Bestritten die erste Ausgabe noch ausschließlich Mitglieder der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt, sehen wir einen zunehmend erweiterten Kreis von ausgewählten Künstler*innen, deren Beiträge diese Ausstellung darstellen. Wenn unser Almanach gerade erst beginnt etwas abzubilden – gesprochen mit Hinblick auf die Tradition, war vor einigen Monaten an gleicher Stelle eine Ausstellung zu sehen, die eben dies bereits geleistet hat: Die Edition Augenweide von Ulrich Tarlatt und Jörg Kowalski, die seit 1989 fünfzig Künstlerbücher, darunter eben dreißig Almanache umfasst.

    Es gibt heute gar nicht mehr so viele Almanache. Tradierte Jahrbücher werden mit Verweis auf die Kurzlebigkeit von Informationen und der Dominanz der Internetrecherche eingestellt. Sicherlich mag aus benannten Gründen der Absatz schwinden, doch wird übersehen, welche Qualität in eben jener anachronistisch anmutenden Form liegt. Die Qualitätssicherung durch eine Redaktion, die Unveränderlichkeit physischer Erzeugnisse, das auratisch Haptische und nicht zuletzt die Reduzierung auf einige wenige Aussagen angesichts der digitalen Masse bilden einen realen Kontrapunkt, der über einem Zeitgeist steht. Das ich das heute so hervorhebe, ist ein wenig witzig, war doch der Almanach vor 200 Jahren das Medium schlechthin in Europa. Ursprünglich als astrologisches Jahrbuch entwickelt, war es bald populär auch Nachrichten und kurze Textchen in den Almanachen zu integrieren, woraus sich dann der Musenalmanach entwickelte und die Kaffeetischchen der feinen Gesellschaft überschwemmte.

    Ein Ferdinand Johannes Witt mutmaßte jedoch im Politischen Taschenbuch von 1831, dass sich kaum jemand aus eigenem Wünschen heraus diese Anthologien zulegte, sondern diese vielmehr wie heutige, unsägliche Bildbände hervorragend einfallslose Geschenke darstellten. Er beklagte eine regelrechte Almanachomanie: „Wenn das Fieber einmal eine Gegend heimgesucht hat, kehrt es alle Jahre wieder, ohne daß es darum doch eigentlich endemisch geworden, die Luft, die Jahreszeit, bringt es nun mal mit sich. So geht es auch mit der Almanachomanie, und unbgreiflich ist es, wie diese Ephemera sich zu erhalten vermögen, da der größte Teil derselben nichts Gutes hat, als den Einband. Die Kosten der äußeren Ausstattung sind so bedeutend, daß wenige Verleger etwas Tüchtiges auf den Inhalt zu wenden begehren, der daher einigen Novellisten von Profession, vorzüglich aber einer Anzahl schreibseliger Damen anheim gefallen.“[1] Ich freue mich, dass unsere Redaktion gegenteilige Herangehensweise an den Tag legt und den Inhalten den Vorzug gibt. Daran scheint es im 18. Jahrhundert tatsächlich gekrankt zu haben. Der Herausgeber des Wiener Musenalmanachs schmiss bereits 1779 das Handtuch nach gerade mal drei Ausgaben unter seiner Redaktion und begründete, es sei keine kleine Pein, allemal neun und neunzig poetische Kruditäten durchwühlen zu müssen, bis man endlich, wills Gott! an ein erträgliches Stückchen geräth.[2] Sollte sich uns jemals die Frage stellen, wären diese Sätze vielleicht eine Mahnung vor öffentlichen Ausschreibungen. Hingegen rührt mich diese absolute Offenheit, die eigenen Erzeugnisse bereits im Vorwort so schonungslos zu kritisieren. Auf dem Gipfel der Fremdscham erschien 1789 Dietrich Schofelschreck, Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs, mit seiner in selbigem veröffentlichten „Fürbitte eines ans peinliche Kreuz der Verlegenheit genagelten Herausgebers eines Musenalmanachs: Vergib, o Vater der neun Schwestern, / die unter deinem Lorbeer ruhn, / Vergib es denen, die dich nun / und immerdar durch Schofelwerke lästern: / Sie wissen ja nicht, was sie thun“[3]

    Zwar glaube ich nicht, dass die Akademie jemals derart drastisch sich von den eigenen Inhalten wird distanzieren müssen, davor bewahrt uns schon der Laborcharakter vieler Unternehmungen. Doch wünsche ich uns an jedem angebrachten Moment eine ebenso offen- und leichtherzig formulierte Kritik, als Zweifel oder Gesprächsangebot. Denn genau dies bildet für mich die Basis unserer Akademie. Wir sind angetreten als Initiative, die sich aus sich selbst heraus begründet hat, um einen Gesprächsraum zu eröffnen. Dieser Weg scheint mir richtiger denn je. Im Gespräch bleiben, Haltung zeigen, Differenzen aushalten, sich vor Augen führen, dass man im Wesentlichen für die gleichen Ziele einsteht. Ich bemühe nochmals Platon, um das angemessene Pathos zu verdeutlichen: „Im Gespräch allein springt der Funke der Wahrheit unversehens in die Seele.“

     

    [1] Ferdinand Johannes Witt: Die Almanachomanie. In: Politisches Taschenbuch. Hamburg 1831.

    [2] Joseph Franz von Ratschky: Vorbericht. In: Wiener Musenalmanach. Wien 1779.

    [3] Dietrich Schofelschreck (Alias Gottfire August Bürger), In: Göttinger Museumsalmanach. Göttigen 1789.

  • 3. Akademie-Rede anläßlich der Eröffnung der Ausstellung Almanach 04, und des fünften Gründungsjahres des Akademie-Projekts, von Clara Hofmann

    Ich zitiere einzelne Stimmen von den Personen, die am 10.01.2014 zusammenkamen: Die Akademie solle zu geistigem Austausch einladen, Symposien organisieren, Formen der Kommunikation entwickeln, die Öffentlichkeit suchen, geistigen Austausch fördern, die Situation der zeitgenössischen Kunst analysieren, Missstände benennen und über die Region hinaus wirken. – Sie sei ein Bild von Sokrates und seinen Schüler*innen unter dem Olivenbaum. Tatsächlich waren bereits in der ersten sogenannten Akademie Frauen Teil des Diskurses auf dem nach einem Heroen benannten und von Platon erworbenen Hain. – Eine Akademie tritt für die Würde ihrer Mitglieder ein. Sie ist eine Mittlerin. – Akademie könne eine Form für die Freiheit sein, ein Organ für die Kunst, denn Freiheit der Kunst meint nicht die Freiheit ehrenvollen Verhungerns. Die Akademie sei ein Instrument. Sie verleiht ein Sprachrecht. – Jeder Ort könnte temporär zu einem Ort der Aktion der Akademie umgewidmet werden. Biblisch gesprochen: Die Akademie ist dort, wo wir sind. Kein Gebäude, keine Institution, keine Ortsbindung: eine Gruppe. – Die Akademie sei als Prozess zu begreifen. Wir müssten sie mit Ideen füllen. Die Struktur kommt später.

    5 Jahre Akademie der Künste Sachsen-Anhalt, 4 Almanache, 3 Zeitschriften, 3 Ausstellungen, zahlreiche Akademiebier später stehe ich hier anlässlich einer Ausstellungseröffnung zu sprechen. Obwohl es bei dem erwähnten Treffen vor 5 Jahren beinahe zur Pflicht erhoben wurde, in der Akademie ehrwürdige Bärte zu tragen, kann ich immer noch keinen vorweisen, so sehr ich mich auch bemüht habe. Die Akademie ist noch immer Prozess.

    Wie Raphaels Schule von Athen in den vatikanischen Stanzen suggeriert, verstehen wir unsere Akademie als ebenbürtigen Dialog auf Grundlage unserer jeweiligen Arbeit – aus unterschiedlichen Disziplinen kommend; mit unterschiedlichen Auffassungen und unterschiedlichen Hintergründen; mit sich gleichenden Fragen, mit dem Wunsch nach Auseinandersetzung und einiger Lust am Streit. Ein späterer Schüler und Erneuerer der Akademie war Cicero, der ein damaliges Schisma in der Akademie zu vereinen wusste. Drei Wesenszüge der Akademie waren für ihn als Skeptiker zwischen Rhetorik und Philosophie wichtig: Eklektizismus, Tradition und Probalismus. Ich wünsche unserer Akademie genau dieses fruchtbare Aufeinandertreffen nach wie vor gültiger Vorzüge: Eklektizismus im Sinne einer Vielfalt und Flexibilität, Tradition natürlich im Sinne eines Fortbestehens in der Zukunft, aber auch eines Blickes über die eigenen Kontexte hinaus und Probalismus, als Negation der Existenz einer allgemeinen Wahrheit, als Offenheit für die Suche und Grundlage zur Diskursfähigkeit.

    Als Diskurs begreife ich auch die Reihe an Almanachen, die seit vier Jahren beginnt. Zwischen den bisher schlichten Pappdeckeln dieser Jahrbücher bündeln sich Dialoge zwischen einzelnen Stimmen unserer Zeit zu den jeweiligen Titeln. Bestritten die erste Ausgabe noch ausschließlich Mitglieder der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt, sehen wir einen zunehmend erweiterten Kreis von ausgewählten Künstler*innen, deren Beiträge diese Ausstellung darstellen. Wenn unser Almanach gerade erst beginnt etwas abzubilden – gesprochen mit Hinblick auf die Tradition, war vor einigen Monaten an gleicher Stelle eine Ausstellung zu sehen, die eben dies bereits geleistet hat: Die Edition Augenweide von Ulrich Tarlatt und Jörg Kowalski, die seit 1989 fünfzig Künstlerbücher, darunter eben dreißig Almanache umfasst.

    Es gibt heute gar nicht mehr so viele Almanache. Tradierte Jahrbücher werden mit Verweis auf die Kurzlebigkeit von Informationen und der Dominanz der Internetrecherche eingestellt. Sicherlich mag aus benannten Gründen der Absatz schwinden, doch wird übersehen, welche Qualität in eben jener anachronistisch anmutenden Form liegt. Die Qualitätssicherung durch eine Redaktion, die Unveränderlichkeit physischer Erzeugnisse, das auratisch Haptische und nicht zuletzt die Reduzierung auf einige wenige Aussagen angesichts der digitalen Masse bilden einen realen Kontrapunkt, der über einem Zeitgeist steht. Das ich das heute so hervorhebe, ist ein wenig witzig, war doch der Almanach vor 200 Jahren das Medium schlechthin in Europa. Ursprünglich als astrologisches Jahrbuch entwickelt, war es bald populär auch Nachrichten und kurze Textchen in den Almanachen zu integrieren, woraus sich dann der Musenalmanach entwickelte und die Kaffeetischchen der feinen Gesellschaft überschwemmte.

    Ein Ferdinand Johannes Witt mutmaßte jedoch im Politischen Taschenbuch von 1831, dass sich kaum jemand aus eigenem Wünschen heraus diese Anthologien zulegte, sondern diese vielmehr wie heutige, unsägliche Bildbände hervorragend einfallslose Geschenke darstellten. Er beklagte eine regelrechte Almanachomanie: „Wenn das Fieber einmal eine Gegend heimgesucht hat, kehrt es alle Jahre wieder, ohne daß es darum doch eigentlich endemisch geworden, die Luft, die Jahreszeit, bringt es nun mal mit sich. So geht es auch mit der Almanachomanie, und unbgreiflich ist es, wie diese Ephemera sich zu erhalten vermögen, da der größte Teil derselben nichts Gutes hat, als den Einband. Die Kosten der äußeren Ausstattung sind so bedeutend, daß wenige Verleger etwas Tüchtiges auf den Inhalt zu wenden begehren, der daher einigen Novellisten von Profession, vorzüglich aber einer Anzahl schreibseliger Damen anheim gefallen.“[1] Ich freue mich, dass unsere Redaktion gegenteilige Herangehensweise an den Tag legt und den Inhalten den Vorzug gibt. Daran scheint es im 18. Jahrhundert tatsächlich gekrankt zu haben. Der Herausgeber des Wiener Musenalmanachs schmiss bereits 1779 das Handtuch nach gerade mal drei Ausgaben unter seiner Redaktion und begründete, es sei keine kleine Pein, allemal neun und neunzig poetische Kruditäten durchwühlen zu müssen, bis man endlich, wills Gott! an ein erträgliches Stückchen geräth.[2] Sollte sich uns jemals die Frage stellen, wären diese Sätze vielleicht eine Mahnung vor öffentlichen Ausschreibungen. Hingegen rührt mich diese absolute Offenheit, die eigenen Erzeugnisse bereits im Vorwort so schonungslos zu kritisieren. Auf dem Gipfel der Fremdscham erschien 1789 Dietrich Schofelschreck, Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs, mit seiner in selbigem veröffentlichten „Fürbitte eines ans peinliche Kreuz der Verlegenheit genagelten Herausgebers eines Musenalmanachs: Vergib, o Vater der neun Schwestern, / die unter deinem Lorbeer ruhn, / Vergib es denen, die dich nun / und immerdar durch Schofelwerke lästern: / Sie wissen ja nicht, was sie thun“[3]

    Zwar glaube ich nicht, dass die Akademie jemals derart drastisch sich von den eigenen Inhalten wird distanzieren müssen, davor bewahrt uns schon der Laborcharakter vieler Unternehmungen. Doch wünsche ich uns an jedem angebrachten Moment eine ebenso offen- und leichtherzig formulierte Kritik, als Zweifel oder Gesprächsangebot. Denn genau dies bildet für mich die Basis unserer Akademie. Wir sind angetreten als Initiative, die sich aus sich selbst heraus begründet hat, um einen Gesprächsraum zu eröffnen. Dieser Weg scheint mir richtiger denn je. Im Gespräch bleiben, Haltung zeigen, Differenzen aushalten, sich vor Augen führen, dass man im Wesentlichen für die gleichen Ziele einsteht. Ich bemühe nochmals Platon, um das angemessene Pathos zu verdeutlichen: „Im Gespräch allein springt der Funke der Wahrheit unversehens in die Seele.“

     

    [1] Ferdinand Johannes Witt: Die Almanachomanie. In: Politisches Taschenbuch. Hamburg 1831.

    [2] Joseph Franz von Ratschky: Vorbericht. In: Wiener Musenalmanach. Wien 1779.

    [3] Dietrich Schofelschreck (Alias Gottfire August Bürger), In: Göttinger Museumsalmanach. Göttigen 1789.

  • 2. Akademie-Rede zur Almanach-Präsentation: „Diese Vorhänge aus Flecken“ von André Schinkel, 2016

    Sei er in Gestalt der Unmengen Blödsinn, die passieren, oder eines gefönten Toupets, das sich aufschwingt, Präsident zu werden, unter uns … oder, eben umgekehrt, in der elfischen Erscheinungsform eines schönen Gedanken, der aber nicht sichtbar wird, in die Welt gekommen – es lohnt sich immer, ihn aufzuspüren, gegens Licht zu halten, zu erkennen. Blinde Flecken sind Botschaften wie Kassiber, Palimpseste, nun, Löcher in der Raumzeit, es wird nötig sein, sie zu entziffern und ihren Gehalt zu erwägen. Einen Champollion bräuchte es, die wirre Hieroglyphe des Unschlitts zu lesen, die um die Sessel der Mächtigen kreist, eine Harpyie aus hysterischem Krietschen und, auf der Rückseite, ein Versteck für jede Art Unsinn, der die Welt in eins hält.
    Wir können nicht umhin, verdattert und zornig zu sein.
    Würde es etwas nützen, wir wären viel öfter und viel mehr verdattert und zornig.

    Anläßlich der zweiten Premiere eines Akademiealmanachs, der unter diesem firnen Motto mitsegelt, ist es gut, sich zu versammeln, das ist der Sinn einer Premiere, eines gemeinsamen Werks wie einer Akademie überhaupt. Es ist an sich schon ein schöner Gedanke.
    Die gesellende Kraft, die eben das Sich-Einfinden hat, sie ist der Mörtel in uns, der lange nicht angerührt lag. Austausch in kollegialem Streit, in der zarten Anarchie die Blicke, Staunen und Zeigen. Das Umschiffen so abgelatschter wie ausgekatschter Gemeinplätze, Ausheben eben der blinden Flecke, die wie Wunden brennen; das Ridikülieren aufgesetzter Bräsig- und Lächerlichkeit.
    Es wohnt darin der Wunsch nach gedimmter Ernsthaftigkeit, die man auch mal leugnen darf, aber eben nicht raushalten, wenn man nicht zum Löwenmäulchen-Club verkommen mag.
    Ob es „schwankende Gestalten“ sind, die sich so uns, als die wir uns den anderen so nähern, es sei dahingestellt. Der Aspekt der Annäherung, in dieser Zeit ist er bereits etwas Tröstliches, den Entwöhnten erreichend und treffend.
    Ob es die Nebelschwaden der „Other Voices“ von Robert Smith sind oder das jeweilige „Te Deum“ Bachs oder Pärts. Das Schwangergehen und Finden solcher Gemeinschaft, die ja, zumal, wenn sie sich aus hochgradigen Individuen zusammensetzt, ist es, worum es geht. Das Weiten der Blicke über den eigenen Arbeitsplatz, Werkberg hinaus.
    Die Kunst, die ein Urhügel unserer menschlichen wie überhaupten Existenz ist, hat das verdient; und wir haben es verdient, in diesen Strömungen unserer Stimmen, Glieder, Gedanken Mast und Kiel zu sein.
    Das Tuch, das den inneren Flug nach außen durchdringen läßt.
    Die Läuterung, Osmose, auch wiederum Verunklarung und Emulsion, die die Kunst uns anbieten mag, sind die Grundhandgriffe gegen blinde Flecken, das „Elsterglanz“ und der Kitt unserer freien Versammlung.
    Eine Akademie ist zunächst Gespräch, Unterweisung, aber auch Streit und Wettstreit um des Wettstreits willen. Sie ist ein Gebäude, ohne zunächst eines besitzen zu müssen. In ihr versammeln sich die Einsiedlerkrebse, um eine Gesellschaft der Einsiedlerkrebse zu bilden.
    Auf dem Rücken dieser Idee mag dereinst das Haus der Akademie wachsen, mit Ammoniten, Quetzalfedern, Tonbändern, Laufmaschen, Kaffeeflecken geziert und geschmückt.
    Ich weiß, es gibt viele Gründe, um eine Accademia zu begründen … die Lust auf Anwesenheit etwa oder Würde und Akademie-Bärte; aber diese Aussicht auf einen Gesprächsraum und dadurch auch eine bergende Funktion für die zerbrechlichen Gelege ihrer Mitglieder hat mich von Beginn dieses Ansinnens an gereizt. Ein solcher, geistiger, künstlerischer Ort ist bereits ein erhebliches Mittel gegen Zerbrechlichkeit. Und gegen jede Form von Stimmlosigkeit. In einer Ära vieler neuerlicher Verluste ist das von großer Kraft und Wichtigkeit.
    Und letztlich ist es vielleicht wie mit vom Aussterben bedrohten Tierarten zu sehen: damit der hochedle Spix-Ara nicht eingeht, darf man die letzten 96 Exemplare seiner Art nicht dauerhaft in getrennten Volieren halten.Nun scheint der Spix-Ara gerade noch gerettet. Aber das Javanashorn, es lebt noch und ist doch schon ausgestorben. Die Wege, sich zu treffen, verloren sich. Und das möge uns zwischen den Wänden aus blinden Flecken erspart sein.
    Hohe Worte, ja, für Künstler zumal, die sich ihre Existenz nachgerade aus einer Art hoher Vereinzelung bauen müssen. Vielleicht ist die Akademie ja wiederum eine Art große Voliere, nicht im Sinn eines Käfigs oder einer Reuse, sondern mit freien und gemeinsamen Geländen, durch die wir gibbonärmig hangeln, wer weiß.
    Ich wünschte mir das – einen Ort, sei er wie er sei, unter einem Dach oder einem Schirm, unter dem immer noch ein Platz unbesetzt bleibt, für den Fall, man hat etwas nicht bedacht oder zu Ende gedacht, dann sei dieser vakante Sitz eine Einladung an die der Kunst zugewandte Welt. Unter den letzten Dingen zählt die Kunst zu den schwierigsten und ungewöhnlichsten Kräften, ihr Rätsel ist zugleich ein halb gelöstes, ihr Vorhanden-Sein erklärt unseren seltsamen Status unter den Dingen, Amöben und Wesen. Eigentlich ist sie ein Teil der Würde aller, und wir sind angehalten, sie auf unsere Weise, in unserer Sicht auf eine wie auch immer geartete Freiheit zu verwalten.
    Der blinde Fleck, meine Damen und Herren, ist auch eine allfällige Vision dessen, was uns umgibt. Mit Blindheit durch die späten Wälder der Aufklärung zu torkeln, es wirft uns weit hinter die Sozialität der Schimpansen zurück. Die Geilheit einer zynischen Attitüde, sie beschäftigt uns, weil wir meinen, weiter zu sehen. Und was zu erblicken ist, es drängt viele unserer Sorgen zurück, ohne sie im Schwall der großen Sorge aufgehen zu sehen. Letztlich ist das Arbeit für Politiker. Aber in einer so auf die Denk-, Schrei- und Diskutierlust ausgerichteten Zeit, die zugleich mit brachialer Blödheit hantiert, sollten wir den Mut in uns halten; als Accademia, denke ich, sollten wir sogar die Pflicht und Verpflichtung dazu besitzen.
    Von daher hoffe und wünsche ich, daß wir die Flecken, an denen wir leiden, angehn; und daß wir das Maß an Unerschrockenheit, das uns als Möglichkeit innewohnt, nutzen und beibehalten. Und sei es in Almanachen und Sit-Ins. Sie sind ein Teil unserer Würde und unseres Selbstverständnisses. Wo ein Almanach ist, herrscht nicht mehr die Leere, das Vakuum, das sei anderen überlassen, denen wir auf die Finger schaun.

    Mögen sich die blinden Flecke noch wundern.

    Vielen Dank.

  • 1. Akademie-Rede zur Almanach-Präsentation: „Maieutik und Bodenprobe“ von Silvio Beck, März 2016

    Die Hebammenkunst, griechisch maieutikḗ, darf wohl als eine der ältesten und zugleich immer wieder unterschätztesten Kunstformen gelten. Eine Kunstform, die sich ganz konkret auf das martialische Wunder der gelingenden Geburt bezieht und seit den Tagen, da ein anderer Grieche, ein, wie man hört, sehr trinkfester Bildhauer mit dem Namen Sokrates seine Bereitschaft aufkündigte, den äußerst opaken, dichten, undurchdringlichen, scheinbar evidenten Notwendigkeiten und oftmals damit einhergehenden irrigen Gedanken blind Gefolge zu leisten, spätestens seit diesen Tagen also ist mit dem Wort Geburtshilfe das schöne Wagnis beschrieben, sich wechselseitig hervorzubringen, ins Dasein zu rufen. Das entscheidende Medium dieses wohl prinzipiell unabschließbaren Geburtsaktes ist das gemeinsame Gespräch. Hier haben wir zwei wichtige Motive, damals wie heute, die Wesentliches aussagen über den Willen eine Akademie zu gründen: das Gespräch und die daraus resultierende Fähigkeit sich in freier Assoziation zusammen zu schließen, in der Gründung sich selbst zu begründen durch die Vergegenwärtigung und Wahrnehmung des jeweils Anderen, dem Hören aufeinander und die daraus folgende Lust an der gemeinsamen Tat. Denn, wie Bazon Brock mit Blick auf den ursprünglichen Sinn von Akademien formuliert: die freie Assoziation ist die einzige Form in der man zusammen den Versuch unternehmen kann, selbst zu erfüllen, was man von sich und der Welt erwartet. Doch wie kommt es, dass ein disparater wilder Haufen unterschiedlichster Künstler sich freiwillig in diesen Prozess begibt, ja sich einer gemeinsamen Idee verschreibt? Ich denke, ich gehe nicht zu weit, einmal stellvertretend zu formulieren: es ist allen Gründungsmitgliedern schlichtweg ein echtes Bedürfnis!

    Ich möchte nun im Folgenden einige Niederungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Geländes durchqueren, Aspekte der unumgehbaren Kontexte beschreiben, eine Skizze vornehmen, die als Entwurf einer Standortbestimmung, als Bodenprobe gewissermaßen ins Labor gehen kann.

    Ich verwendete den Begriff der freien Assoziation, also einer Gemeinschaft, die an einer gemeinsamen künstlerischen Form arbeitet, in dem sie sich freiwillig selbst verpflichtet. Doch was ist Freiheit heute? Wie steht es mit der durch das Grundgesetz garantierten freien Entfaltung der Persönlichkeit und der darüber hinausgehenden geistigen, schöpferischen Freiheit in der Gegenwart? Angesichts der Dynamik des technisch-wissenschaftlichen Komplexes und der Herrschaft der Ökonomie, die alle Lebensbereiche durchdringen, sie formatieren und schlussendlich ihren Bedingungen unterwerfen, zeigt sich doch zunehmend glasklar, dass sie, die Freiheit, in der Eigenlogik der Systeme zu verschwinden droht. Doch damit nicht genug: der Philosoph Byung-Chul Han diagnostiziert einen bereits vollzogenen Übergang von der Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft. Er entdeckt einen geradezu mephistophelischen Widerpart der Freiheit, eine anonymisierte Macht, die durch uns hindurchgeht, die uns bestimmt, deren Verführung uns gerade in unserem Freiheitsdrang schmeichelt. Die smarte Macht, so Han schmiegt sich der Psyche an, statt sie zu disziplinieren. Diese freundliche Macht ist gleichsam mächtiger als die repressive. Sie entzieht sich jeder Sichtbarkeit. Die heutige Krise der Freiheit bestehe darin, dass wir es mit einer Machttechnik zu tun haben, die die Freiheit nicht negiert oder unterdrückt, sondern sie ausbeutet. Peter Sloterdijk wiederum zeigt unter dem zum Motto geronnenen Rilke-Zitat „Du musst Dein Leben ändern“ wie eine Jahrtausende alte Erfolgsgeschichte des Übens den Menschen durch unvergleichliche Selbstoptimierungsprogramme zu dem machte, der er jetzt ist. Das heißt aber auch, dass er diejenigen Systeme hervorgebracht hat, mit denen er sich nach Byung-Chul Han jetzt umfassend ausbeutet. Die heute von fast jedem geforderte Selbstoptimierung dient nicht mehr der Frage nach dem guten und freien Leben, ist nicht Zweck in sich selbst, sondern dient dem Mehrwert der globalen Ökonomie, der Markteffizienz. Ein neues Reich der Fremdbestimmung zeichnet sich ab. Die Spuren ziehen sich durch fast jede zeitgenössische Biografie. Denn, wie der Theatermacher René Pollesch bissig formuliert: das Innere ist der Konsens. Indem Sehnsüchte, Wünsche, Vorstellungen, Impulse und Entscheidungen durch umfassende Markt-gesteuerte Bildprogramme und Erzählungen, durch ökonomische Bedingungen und Bedürfnisse kolonisiert werden, diese Kolonisierung als das menschliche Selbst ausgegeben wird, betritt heute jeder die Bühne des Konflikts des Dramas der Freiheit. Die gesellschaftliche Software heißt Freiheit, die Hardware Ökonomie. Das ist die Situation des alltäglichen Markt-Terrors.

    Ist die Kunst nun ein Subsystem der Ökonomie, erfolgreich integrierter Lifestyle, Aufplüschung des Standortmarketings, kreativwirtschaftliche Produktmaschine, Bewußtseins-Spedition oder eine höchst individuelle Poetik, die gleichsam ins Universelle zielt und aus dem Universellen schöpft? Ich möchte mit Jorge Luis Borges antworten: „Wenn ich schreibe, versuche ich dem Traum und nicht den Umständen treu zu sein.“ Also: der Künstler riskiert sich selbst, er entscheidet sich für das Wagnis, eben nicht den Umständen treu zu sein, sondern dem Nichtwissen, dem Unbekannten. Er gewinnt dabei eine Treue zu dem unentwegten Versuch die Enge der Verhältnisse zu überwinden und einen neuen Raum, einen Gegenraum zu betreten, eine ebenso intime wie universelle Unendlichkeit. Dieser Gedanke spielte gerade in dem Kulturkreis, dem sich die Ländergrenzen des heutigen Sachsen-Anhalt eingraviert haben, eine entscheidende Rolle. Novalis erlebte und bezeugte den Menschen als Spiegelbild des gesamten Kosmos. Knüpfen wir doch daran an. Spinnen wir den Faden weiter. Treten wir in den Gesprächsraum dieses Kulturkreises ein. Erweitern und transformieren wir ihn aus unserer eigenen Arbeit heraus. Trinken wir hin und wieder ein Gläschen mit den Toten. Erzählen wir ihnen, dass dort wo sie uns das Bewußtsein für die Einheit des Verschiedenen überliefert haben, wir die Unversöhnbarkeit der Weltfragmente erleben. Und das trotzdem die nicht erzwingbare Unmittelbarkeit des Ganzen die imaginäre Fluchtlinie unserer Suche bleibt. In einem Gespräch, dass die Akademiemitglieder Thomas Blase, Wieland Krause, Andre Schinkel und Jörg Wunderlich geführt haben und das auf der Homepage des Netzwerks und Magazins Hallesche Störung nachzulesen ist, sagt Wieland Krause folgendes: „Das Zeitgenössische ist aber das Zukünftige, was sich an der Wurzel misst. Das ist wesentlich. Und wenn das nicht mehr stattfindet, ist das verheerend, eine Lücke also, die keine Zukunft findet.“

    Für solcherart Standortbestimmung, Selbstvergewisserung, Selbstbefragung brauchen wir das Gespräch. Das Gespräch als Denk- und Erfahrungsraum, als Ereignis sich einander zu erkennen gebender Menschen. Die Präsentation des ersten Almanachs schreibt sich ein in das begonnene Gespräch als erste öffentliche Aktion der neu gegründeten Akademie der Künste Sachsen-Anhalt. Sinnlich, konkret, haptisch, geistig!

    Verehrte Gäste, auch wenn ich das herrschende Paradigma einer totalen Ökonomisierung als Menetekel unserer Zeit diagnostiziert habe, möchte ich sie dennoch darauf hinweisen, dass die Ausgaben des Almanachs selbstverständlich käuflich erworben werden können. Und glauben sie mir, diesmal erhalten sie für ihr Geld wirklich etwas Unbezahlbares.