Autor: headways

  • Nur der Tag darf nicht sein. „Auf­stieg und Fall der Stadt Maha­gonny“ von Brecht/Weill an der Oper Halle

    Nur der Tag darf nicht sein. „Auf­stieg und Fall der Stadt Maha­gonny“ von Brecht/Weill an der Oper Halle

    Das Timing hatte geses­sen: Donald Trump war noch keine 24 Stun­den im Amt, als auf der Hal­le­schen Opern­bühne die neuen Gesetze einer fik­ti­ven Gold­grä­ber­stadt ver­kün­det und die ohne­hin beschä­digte Welt noch ein­mal unter­gangs­reif auf den Kopf gestellt wer­den sollte.
    Noch bevor die Ouver­türe erklang, durfte ein trau­rig klin­gen­der Brecht ganz ohne Vor­hang sein auf­ge­stan­de­nes Publi­kum fra­gen: „Was sind das für Zei­ten?“.

    Fol­ge­rich­tig beginnt der erste Akt mit dem Motiv einer Trau­er­feier. Umge­ben von antik-impe­ria­len Säu­len­gän­gen aus Sty­ro­por- und Bau­schaum thront das Orches­ter auf einer Empore in Schal­ter­hal­len-Optik. Vor die­ser monu­men­ta­len Tri­büne bestei­gen die Dar­stel­ler mit Urnen­ge­fä­ßen nach­ein­an­der ein Red­ner­pult, um mit wei­nen­dem Ges­tus Text­pas­sa­gen und Regie­an­wei­sun­gen aus dem Libretto ins Mikro­phon zu dekla­mie­ren. Ein „Pas­si­ons­spiel über den Kapi­ta­lis­mus“ wolle er auf­füh­ren, hatte Regis­seur Michael von zur Müh­len in einem Gespräch mit dem Brecht­for­scher Gün­ther Heeg erklärt. Der dem Stück inne­woh­nende Nihi­lis­mus sollte dabei in akti­ver „Trau­er­ar­beit“ als „Form der Selbst­er­mäch­ti­gung“ ange­schaut wer­den kön­nen.

    Dass diese Trauer nie­mals über drei Stun­den durch­ge­hal­ten wer­den kann, son­dern umschlägt in gro­teske Komik, ist nur gut und tut dem Gelin­gen des Regie­vor­ha­bens kei­nen Abbruch. Von zur Müh­len weiß zwar auf die Tube zu drü­cken, wenn es etwa um Bil­der über­bor­den­der Deka­denz geht, ver­mei­det dabei aber vor­der­grün­dige Effekte. So herrscht im ers­ten und zwei­ten Akt noch monu­men­tale Strenge, gebro­chen durch Momente melo­dra­ma­ti­scher Per­si­flage. Über weite Stre­cken kann man so rela­tiv unab­ge­lenkt der Kom­po­si­tion und dem Stück fol­gen, ehe sich im Schluss­akt alles zu einem kako­pho­ni­schen Slap­stick-Requiem stei­gert. Diese mutige Grat­wan­de­rung ver­dient Respekt, denn mit einem weni­ger her­vor­ra­gen­dem Ensem­ble hätte das Ganze auch leicht dane­ben gehen kön­nen.

    Letzt­end­lich aber hallte wohl, wenn auch von den Auto­ren Brecht und Weill so nicht beab­sich­tigt, die im Stück geschmähte „ewige Kunst“ als stärks­tes Boll­werk gegen das tobende Nichts in den Zuschau­ern nach. Diese Ein­sicht däm­mert uns heute, wo die „Maha­gon­ni­sie­rung“ der Welt vor­an­ge­schrit­ten ist, die „Tem­pel“ aber, frei nach nach Schil­ler, noch „hei­lig“ sein kön­nen, auch wenn „die Göt­ter längst dem Gespött die­nen“.

    Jörg Wunderlich

    Wei­tere Auf­füh­run­gen: 27. / 29. Januar , 1. / 26. Februar, 24. März,

    Wei­tere Infos ( Link: http://buehnen-halle.de/mahagonny#!/ )

    Foto: © Thea­ter-, Oper und Orches­ter GmbH Halle, Falk Wen­zel

  • 2. Akademie-Rede zur Almanach-Präsentation: „Diese Vorhänge aus Flecken“ von André Schinkel, 2016

    Sei er in Gestalt der Unmengen Blödsinn, die passieren, oder eines gefönten Toupets, das sich aufschwingt, Präsident zu werden, unter uns … oder, eben umgekehrt, in der elfischen Erscheinungsform eines schönen Gedanken, der aber nicht sichtbar wird, in die Welt gekommen – es lohnt sich immer, ihn aufzuspüren, gegens Licht zu halten, zu erkennen. Blinde Flecken sind Botschaften wie Kassiber, Palimpseste, nun, Löcher in der Raumzeit, es wird nötig sein, sie zu entziffern und ihren Gehalt zu erwägen. Einen Champollion bräuchte es, die wirre Hieroglyphe des Unschlitts zu lesen, die um die Sessel der Mächtigen kreist, eine Harpyie aus hysterischem Krietschen und, auf der Rückseite, ein Versteck für jede Art Unsinn, der die Welt in eins hält.
    Wir können nicht umhin, verdattert und zornig zu sein.
    Würde es etwas nützen, wir wären viel öfter und viel mehr verdattert und zornig.

    Anläßlich der zweiten Premiere eines Akademiealmanachs, der unter diesem firnen Motto mitsegelt, ist es gut, sich zu versammeln, das ist der Sinn einer Premiere, eines gemeinsamen Werks wie einer Akademie überhaupt. Es ist an sich schon ein schöner Gedanke.
    Die gesellende Kraft, die eben das Sich-Einfinden hat, sie ist der Mörtel in uns, der lange nicht angerührt lag. Austausch in kollegialem Streit, in der zarten Anarchie die Blicke, Staunen und Zeigen. Das Umschiffen so abgelatschter wie ausgekatschter Gemeinplätze, Ausheben eben der blinden Flecke, die wie Wunden brennen; das Ridikülieren aufgesetzter Bräsig- und Lächerlichkeit.
    Es wohnt darin der Wunsch nach gedimmter Ernsthaftigkeit, die man auch mal leugnen darf, aber eben nicht raushalten, wenn man nicht zum Löwenmäulchen-Club verkommen mag.
    Ob es „schwankende Gestalten“ sind, die sich so uns, als die wir uns den anderen so nähern, es sei dahingestellt. Der Aspekt der Annäherung, in dieser Zeit ist er bereits etwas Tröstliches, den Entwöhnten erreichend und treffend.
    Ob es die Nebelschwaden der „Other Voices“ von Robert Smith sind oder das jeweilige „Te Deum“ Bachs oder Pärts. Das Schwangergehen und Finden solcher Gemeinschaft, die ja, zumal, wenn sie sich aus hochgradigen Individuen zusammensetzt, ist es, worum es geht. Das Weiten der Blicke über den eigenen Arbeitsplatz, Werkberg hinaus.
    Die Kunst, die ein Urhügel unserer menschlichen wie überhaupten Existenz ist, hat das verdient; und wir haben es verdient, in diesen Strömungen unserer Stimmen, Glieder, Gedanken Mast und Kiel zu sein.
    Das Tuch, das den inneren Flug nach außen durchdringen läßt.
    Die Läuterung, Osmose, auch wiederum Verunklarung und Emulsion, die die Kunst uns anbieten mag, sind die Grundhandgriffe gegen blinde Flecken, das „Elsterglanz“ und der Kitt unserer freien Versammlung.
    Eine Akademie ist zunächst Gespräch, Unterweisung, aber auch Streit und Wettstreit um des Wettstreits willen. Sie ist ein Gebäude, ohne zunächst eines besitzen zu müssen. In ihr versammeln sich die Einsiedlerkrebse, um eine Gesellschaft der Einsiedlerkrebse zu bilden.
    Auf dem Rücken dieser Idee mag dereinst das Haus der Akademie wachsen, mit Ammoniten, Quetzalfedern, Tonbändern, Laufmaschen, Kaffeeflecken geziert und geschmückt.
    Ich weiß, es gibt viele Gründe, um eine Accademia zu begründen … die Lust auf Anwesenheit etwa oder Würde und Akademie-Bärte; aber diese Aussicht auf einen Gesprächsraum und dadurch auch eine bergende Funktion für die zerbrechlichen Gelege ihrer Mitglieder hat mich von Beginn dieses Ansinnens an gereizt. Ein solcher, geistiger, künstlerischer Ort ist bereits ein erhebliches Mittel gegen Zerbrechlichkeit. Und gegen jede Form von Stimmlosigkeit. In einer Ära vieler neuerlicher Verluste ist das von großer Kraft und Wichtigkeit.
    Und letztlich ist es vielleicht wie mit vom Aussterben bedrohten Tierarten zu sehen: damit der hochedle Spix-Ara nicht eingeht, darf man die letzten 96 Exemplare seiner Art nicht dauerhaft in getrennten Volieren halten.Nun scheint der Spix-Ara gerade noch gerettet. Aber das Javanashorn, es lebt noch und ist doch schon ausgestorben. Die Wege, sich zu treffen, verloren sich. Und das möge uns zwischen den Wänden aus blinden Flecken erspart sein.
    Hohe Worte, ja, für Künstler zumal, die sich ihre Existenz nachgerade aus einer Art hoher Vereinzelung bauen müssen. Vielleicht ist die Akademie ja wiederum eine Art große Voliere, nicht im Sinn eines Käfigs oder einer Reuse, sondern mit freien und gemeinsamen Geländen, durch die wir gibbonärmig hangeln, wer weiß.
    Ich wünschte mir das – einen Ort, sei er wie er sei, unter einem Dach oder einem Schirm, unter dem immer noch ein Platz unbesetzt bleibt, für den Fall, man hat etwas nicht bedacht oder zu Ende gedacht, dann sei dieser vakante Sitz eine Einladung an die der Kunst zugewandte Welt. Unter den letzten Dingen zählt die Kunst zu den schwierigsten und ungewöhnlichsten Kräften, ihr Rätsel ist zugleich ein halb gelöstes, ihr Vorhanden-Sein erklärt unseren seltsamen Status unter den Dingen, Amöben und Wesen. Eigentlich ist sie ein Teil der Würde aller, und wir sind angehalten, sie auf unsere Weise, in unserer Sicht auf eine wie auch immer geartete Freiheit zu verwalten.
    Der blinde Fleck, meine Damen und Herren, ist auch eine allfällige Vision dessen, was uns umgibt. Mit Blindheit durch die späten Wälder der Aufklärung zu torkeln, es wirft uns weit hinter die Sozialität der Schimpansen zurück. Die Geilheit einer zynischen Attitüde, sie beschäftigt uns, weil wir meinen, weiter zu sehen. Und was zu erblicken ist, es drängt viele unserer Sorgen zurück, ohne sie im Schwall der großen Sorge aufgehen zu sehen. Letztlich ist das Arbeit für Politiker. Aber in einer so auf die Denk-, Schrei- und Diskutierlust ausgerichteten Zeit, die zugleich mit brachialer Blödheit hantiert, sollten wir den Mut in uns halten; als Accademia, denke ich, sollten wir sogar die Pflicht und Verpflichtung dazu besitzen.
    Von daher hoffe und wünsche ich, daß wir die Flecken, an denen wir leiden, angehn; und daß wir das Maß an Unerschrockenheit, das uns als Möglichkeit innewohnt, nutzen und beibehalten. Und sei es in Almanachen und Sit-Ins. Sie sind ein Teil unserer Würde und unseres Selbstverständnisses. Wo ein Almanach ist, herrscht nicht mehr die Leere, das Vakuum, das sei anderen überlassen, denen wir auf die Finger schaun.

    Mögen sich die blinden Flecke noch wundern.

    Vielen Dank.

  • Zeitschrift für Kunst in Sachsen-Anhalt

    Die Akademie der Künste Sachsen-Anhalt will hiermit eine Möglichkeit eröffnen gegenwärtigem künstlerischem Denken und den Künsten in Sachsen-Anhalt eine neue Wahrnehmung zu geben. Die Zeitschrift versteht sich als Angebot für einen offenen Dialog zu aktueller Kunst, Gesellschaft und Zukunftsthemen.

    Zeitschrift für Kunst in Sachsen-Anhalt
    Herausgeber: Akademie der Künste Sachsen-Anhalt

    ISBN 978-3-945377-42-0

    1. Auflage 2016 – 2000 Stück
    © Akademie der Künste Sachsen-Anhalt e.V.
    Otto-Stomps-Straße 100
    06116 Halle

    Preis: 5 €
    zu bestellen unter: info@adk-san.de
    Die Publikation erscheint im Auftrag der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt e.V. im HASENVERLAG

     

  • Ring frei für die Post-Dramatik: „Bier für Frauen“ von Felicia Zeller in der Theatrale Halle

    „Bier für Frauen“ besteht aus ursprünglich 120 fragmentarischen Trialogen und jeder Menge absurder Regieanweisungen. Eine Einladung also für experimentierfreudige Studiobühnen, die allerdings gespickt ist mit Risiken für die Inszenierung.
    Die Schaustelle Halle nahm die Herausforderung an und brachte unter der Regie von Silvio Beck das Erstlingswerk der mittlerweile gefeierten Autorin Felicia Zeller auf die Bühne. Schon die Besetzung mit dem Diven-Dreieck Conny Wolter, Astrid Kohlhoff und Stefan Ebeling erwies sich als Glücksfall. Letzterer bringt als alternde Drag-Queen im Mittelpunkt des Geschehens eine Portion an genialischem Pfeffer ein. Das minimalistische Bühnenbild besteht aus einem quadratischen Podest in Boxringgröße – einem geeigneten Austragungsort also für all die Verbalattacken, Ichbefragungen und Zeitgeist-Monologe, Slapstick-Faustkämpfe und melodramatischen Verwandlungen, last but not least: auch für überraschenden Show-Glamour mit Tanz und Gesang. Dafür, dass aus einem reinen Sprechstück so zeitweise fast ein kleines „Post“-Musical wurde, sorgte neben den Arrangements von Stefan Ebeling auch die Choreografie von Ellen Brix. Überhaupt passt die vierbuchstabige Standard-Diskurssilbe auf fast alles an diesem Abend: Post-Dramatik, Post-Offtheater, Post-Queer und natürlich auch Post-Post. So gelungen und rund kann sich also Dekonstruktion anfühlen. Die hiesige freie professionelle Theaterszene beweist mit dieser Produktion einmal mehr, dass sie trotz andauernder Unetrfinanzierung in der Lage ist, vitales zeitgenössisches Theater auf deutlich überregionalem Niveau beizusteuern. Der plötzliche Kulturgoldregen aus dem Halleschen Rathaus kommt vielleicht gerade noch rechtzeitig, um diese bemerkenswerte Qualität endlich einmal wirksam zu sichern und zu fördern. Gut auch, dass das Stück im Januar und Februar im Objekt 5 und anderswo weiter zu erleben sein wird. Schließlich handelt es sich bei „Bier für Frauen“ weder um Weihnachts- noch um Antiweihnachtstheater.
    Jörg Wunderlich

    Nächste Aufführungen:
    18. Januar 2017 im Objekt 5, Seebener Straße 5, 06114 Halle (tel.: 0345-47823360)

    Infos unter: http://schaustelle-halle.de/
    Fotos: René Schäffer

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  • Bier für Frauen

    Ob allein, zu zweit oder zu dritt, Monolog über dem Bier oder Gemeinschaftstrinken, mit außerordentlichem Körpereinsatz oder ohne: zwei Schauspielerinnen, ein Schauspieler, ein Regisseur, eine Choreografin und at first ein Stück von Felicia Zeller ergründen Formen von Kommunikation, welche hartnäckig wiederkehrende Bedürfnisse nach Klarheit artikulieren, dabei jedoch trink-syntaktisch aus dem Ruder laufen. Jenseits fester Standpunkte fördern sie Sätze zu Tage, die selten vollständig sind, erdulden Wiederholungen, die konsequent den gesuchten Sinn verfehlen, erleben momenthafte poetische Höhenflüge und jähe Abstürze in die Untiefen der Muttersprache, gewalttätig und zart, ordinär und schön. Trotz wiederkehrender Versuche neuer Lösungsansätze zur Rettung der Menschheit, die wie selbstverständlich über die Lippen gleiten, zeugen stark verkürzte Verständniscodes, bei erhöhtem Alkoholpegel auch Missverständniscodes, von einer fundamental gewordenen Disharmonie, einem Innendruck, für den es nur ein Ventil gibt: Theater!

    eine Produktion von Schaustelle/Halle
    Schauspiel: Astrid Kohlhoff, Conny Wolter, Stefan Ebeling / Regie: Silvio Beck / Choreografie: Ellen Brix / Musikalische Leitung: Stefan Ebeling

     

  • Agulem

    Agulem

    Ich schätzte ihn nicht älter als neun. Seine etwas zu groß wirkenden weißen Zähne stehen leicht schief, seine kleinen kräftigen Händen tragen wulstige Narben. Wenn er seine Augen schließt, sieht man, dass einzelne Härchen der Brauen bis auf seine Lider wachsen. Die unteren Wimpern klappen so weit nach oben, dass einige Härchen den Augapfel berühren, die Pupillen schielen weit zur Seite.
    Ich schob Agulem den Löffel mit Brei in den Mund und ein Stück Brot hinterher.

    Seit zwei Monaten lebe ich in Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans und arbeite als Freiwilliger im Kinderzentrum Ümüt-Nadjeshda, einer Bildungseinrichtung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. In der Schule des Zentrums bin ich für Agulems Betreuung zuständig.
    Ich helfe ihm beim Essen und bei der Körperpflege, begleite ihn zu Therapien und beschäftige mich mit ihm. Agulem ist dreizehn Jahre alt, er sieht nahezu nichts und spricht nicht, sondern gibt nur Laute von sich, wie dadldadldadldadldadldadldadl, glaglaglaglaglaglaglaglaglagla und HANG! Er legt eine Hand an seinen Mund und die andere an sein Ohr und macht mongmongmongmongmongmongmong. Es ist nicht leicht zu sagen, wie viel er von dem was man ihm sagt versteht.

    Vor sieben Jahren kam er in den Kindergarten des Zentrums. Seine Behinderung wurde wohl durch eine frühkindliche Hirnschädigung durch Sauerstoffunterversorgung bei der Geburt verursacht.

    Dass ein behindertes Kind in seiner Familie aufwächst, ist in Kirgistan nicht selbstverständlich. Es ist üblich, mit einer Behinderung geborene Kinder unmittelbar nach der Geburt in Heime zu geben und diese Praxis hat eine lange Geschichte. Zu Zeiten der Sowjetunion wurde der Mutter noch im Krankenhaus ein Dokument vorgelegt. Mit ihrer Signatur bestätigte sie darin, sich von der Verantwortung für das Kind loszusagen.
    Heute wird in Kirgistan keine Mutter mehr gezwungen, sich von ihrem Kind zu lösen. Dennoch geben viele ihr Kind freiwillig in Heime ab.

    Die Gründe dafür sind nur bedingt ökonomischer Natur. Denn wie mir die Gründerin des Kinderzentrums, Karla-Maria Schälike, erzählte, gäben auch sehr viele wohlhabende Eltern, die sich eine adäquate Betreuung von Kindern mit Behinderung durchaus leisten könnten, ihre Söhne und Töchter in Heime, wenn eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung diagnostiziert wurde.

    Mitverantwortlich ist dafür die Einstellung der kirgisischen Gesellschaft zu Menschen mit Behinderung, welche sich über die Zeit wenig verändert hat: Nach wie vor wird Behinderung als ein Defekt betrachtet. Eine Förderungsfähigkeit wird diesen Menschen abgesprochen.

    Wer behindert geboren wurde oder in Folge einer Krankheit oder eines Unfalls mit einer Behinderung lebt, gilt als bildungsunfähig und erhält von staatlicher Seite keine Förderung. Dabei wird keinerlei Unterschied gemacht zwischen Kindern mit geistigen Beeinträchtigungen und Kindern, die mit einer körperlichen Behinderung leben, dem Unterricht in einer Regelschule aber eigentlich problemlos folgen könnten.
    Selbst eine Fußfehlstellung kann Grund sein, dass der Zugang zu Bildung verwehrt wird.

    Für Menschen mit Behinderung gibt es wenige Optionen, ihr Leben zu gestalten. Etliche von ihnen bleiben in Heimen. Noch in den 1990er Jahren war die Lage in den staatlichen Kinderheimen allerdings so schlimm, dass viele Kinder eine Unterbringung nicht überlebten. Kinder mit Behinderung bekamen dort keine Förderung und wenn der Wille an manchen Stellen dagewesen sein mag, fehlten schlicht die Kapazitäten, diesen Kindern die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie benötigten.

    Auch Agulem habe, wie mir ein ehemaliger Freiwilliger berichtete, wahrscheinlich eine Zeit lang in einem Kinderheim gelebt, in welchem es ihm nicht gut ging. Jener Freiwillige hat Agulem vor sieben Jahren im Kindergarten des Zentrums kennengelernt. Dort sei der Junge wiederholt mit Wunden erschienen, die er sich selbst zugefügt hatte. So habe er sich seine Hände oft blutig gebissen, die Narben auf seinen Fingerknöcheln scheinen dies zu bezeugen. Ich selbst habe ihn bisher nicht mit frischen Wunden gesehen. Agulem schlägt sich jedoch nach wie vor häufig auf den Kopf oder ins Gesicht. Dazu öffnet er den Mund und schlägt mit der geballten Faust auf den Kiefer.
    Als ich das an meinem Kopf probierte, zuckte dieser zurück, wenn der Schlag den Kiefer traf. Agulems Kopf zuckt nicht.

    Das Stehen und Gehen macht Agulem augenscheinlich Angst. Er klammert sich so an meinen Händen fest, dass es schwer ist, seine Finger von ihnen zu lösen. Seine Schritte sind klein, unsicher und hastig. Obwohl Agulem außer seiner Sehbehinderung keine körperlichen Einschränkungen hat, bewegt er sich nicht selbstständig fort. Setzt man ihn auf den Boden oder auf eine Bank, bleibt er an diesem Platz, bis er abgeholt wird.

    Ich habe mich gefragt, wie wohl Agulems Raumvorstellung aussieht – Ob es sich dabei wohl eher um eine Ansammlung von Plätzen handelt? Die Matratze im Klassenzimmer, der Teppich, auf dem er oft liegt, der Platz am Esstisch, sein Stuhl im Morgenkreis, der Toilettensitz, die Bank vor der Schule, auf der er nach Schulschluss sitzt bis seine Mutter ihn abholt … Die Verbindung dieser Plätze könnte ihm eventuell noch bewusst sein, was er jedoch nicht wahrnimmt, ist die sichtbare Weite eines Raumes. Es ist möglich, dass er keinerlei Vorstellung davon hat, was sich hinter der Bank, auf der er täglich sitzt, befindet.
    Sein Raum ist vielleicht nur vielmehr der Boden, auf dem er steht und sitzt und liegt.

    Interessanterweise lacht Agulem gerade dann besonders oft, wenn er den Bodenkontakt für einen Augenblick verliert: auf der Schaukel, auf dem Trampolin und auf dem Karussell zum Beispiel.

    Vieles was Agulem tut wirkt auf mich wie der Versuch einer Selbstversicherung seines Daseins im Raum – das Sich Schlagen und Beißen, Geräusche, die er von sich gibt und die nicht an Andere adressiert zu sein scheinen, sondern nur Geräusche seines Körpers sind, denen er lauscht, das Werfen seines Kopfes zu einer Seite, das so stark ist, dass man den Widerstand der Halswirbel hören kann und der Genuss, der ihm das Bewegen seines Körpers beim Schaukeln bereitet, wenn Fliehkräfte ihn seine eigene Körperhaftigkeit spüren lassen.

    Was ich mit Agulem übe, ist das Stehen und Gehen. Er bekommt außerdem Therapien zur Sprachbildung und Reittherapie. Wir trainieren auch Toilettengänge, denn bisher trug Agulem immer Windeln. Seine Eigenständigkeit beim Essen soll gefördert werden, indem der Löffel in seine Hand gegeben und nur sein Arm geführt wird. Gehör, Gleichgewichtssinn und Tastgefühl sollen trainiert werden, momentan orientiert sich Agulem in erster Linie an seinem Geruchssinn.

    Bei alledem benötigt Agulem sehr viel Assistenz. Aber ich beobachte kleine Fortschritte. Es ist schön, zu sehen, dass Agulem seinen Löffel mittlerweile etwas eigenständiger hält. Dass er öfter Schritte im Zimmer allein geht, dass er öfter die Toilette benutzt als noch vor zwei Monaten.

    Kürzlich habe ich allerdings erfahren, dass Agulem einmal selbstständig essen konnte. Das hat mich sehr gewundert, da er das eigenständige Essen heute wieder üben muss und ich habe mich gefragt, was die Gründe für sein Vergessen sein könnten.

    Sein Vergessen hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass er von Freiwilligen betreut wird. Das mag den Vorteil mit sich bringen, dass eine große Aufmerksamkeit für ihn gewährleistet ist. Gleichzeitig aber geht damit für ihn ein jährlicher Wechsel der Bezugsperson einher. Wenn ein Freiwilliger seinen Dienst beginnt, ist sein Vorgänger in der Regel bereits abgereist, eine wirkliche Übergabe findet selten statt. Übungen und Ansagen können deswegen nicht nahtlos weitergeführt werden.

    Diesen Umstand halte ich für problematisch. Ich denke, um Agulems Eigenständigkeit zu fördern benötigt es eine konstante Struktur in seinem Tagesablauf. Ändert sich die Struktur oder wird sie nicht konsequent eingehalten, können bereits erlangte Fähigkeiten offensichtlich sehr schnell wieder verloren gehen.

    Ich beobachte aber auch, dass es mir selbst zuweilen nicht gelingt, den Tagesablauf einzuhalten, zum Beispiel weil andere Kinder sehr viel Aufmerksamkeit einfordern oder an anderen Stellen im Kinderzentrum Hilfe benötigt wird. Die Gruppe, in der ich arbeite, besteht derzeit aus zwei Klassen. Drei Erzieherinnen und zwei Freiwillige betreuen elf Kinder im Alter von neun bis fünfzehn Jahren mit unterschiedlichsten Behinderungen, darunter Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, die nicht aus den Augen gelassen werden können.

    Agulem ist ein ruhiges Kind. Man kann ihn in eine Ecke setzen, ohne befürchten zu müssen, dass er wegläuft. Für einen Betreuer ist es in stressigen Situationen dann manchmal einfacher ihm Windeln anzuziehen, anstatt aller zwei Stunden mit ihm die Toilette aufzusuchen und dort fünfzehn Minuten auf ihn zu warten. Es geht schneller, ihn zu füttern, anstatt zu warten, bis er den Löffel selbstständig bewegt oder ihn im Rollstuhl zu schieben, anstatt ihn kleine Schritte gehen zu lassen.

    Dabei mag man es gut mit ihm meinen, aber man gibt ihm doch nicht die Zeit, die er bräuchte, eigenständiger zu gehen oder zu essen und verhindert eine Entwicklung, indem man ihm zu vieles abnimmt.

    Mir scheint, es geht bei der Arbeit mit einem behinderten Menschen also gar nicht nur um die Vermittlung eines Wissens, sondern auch um dessen Erhalt – und der Erhalt kann sich wesentlich schwieriger gestalten, weil es eine Geduld mit dem Menschen und dem Tempo seiner Schritte voraussetzt. Eine solche Geduld kann für den Betreuer sehr unökonomisch sein, er muss warten, das kostet Zeit und manchmal kann er sie sich vielleicht gar nicht leisten, weil auch andere Menschen auf seine Hilfe angewiesen sind.
    Das ist dann möglicherweise die Kehrseite einer Hilfeleistung: Eine Vernichtung von Wissen um Eigenständigkeit durch Überfürsorge.
    Da es unwahrscheinlich ist, dass Agulem jemals eine wirkliche Selbstständigkeit erreichen wird, bleibt er angewiesen auf die Menschen, die ihn versorgen und das richtige Maß an Fürsorge finden müssen.

    Zu Beginn meiner Arbeit mit Agulem hat mich diese Asymmetrie in unserem Verhältnis und in meiner Hilfeleistung sehr irritiert. Da er nicht spricht und Bedürfnisse und Widerwillen nicht klar äußert, hatte ich das Gefühl, dass mir die Rolle einer Instanz zufällt, der er in einer Weise ausgeliefert ist. – Ich bin es, der bestimmen kann, wann er auf Toilette geht und wie lang, wann er essen kann und wie viel, ich kann ihm einen Platz zuweisen und ihn an einen anderen Platz bringen. Und ich sehe ihn, ohne von ihm gesehen zu werden.

    Geöffneter rechter Flügel August 2016

    Mir schien, dass ich so in der Position einer unsichtbaren Macht bin, welcher er nur glauben kann, dass sie vertrauenswürdig ist. – Glauben würde an dieser Stelle eine Auslieferung bedeuten: Ohne Wissen und Sicherheit und im bloßen Vertrauen auf meine Glaub-würdigkeit muss Agulem glauben, weil er aufgrund seiner Behinderung eingeschränkt ist, zu über-blicken und zu durchschauen.
    Vor kurzem jedoch hatte ich einen Traum, in dem dieses Verhältnis auf interessante Weise verkehrt war: Agulem war unsichtbar. Ich konnte mit ihm allein durch den Deckel einer Pappschachtel in Verbindung stehen, die ihn in einer Weise vertrat. Dieser Deckel fiel mir in einen See, er ging unter und weichte auf. Ich wusste nun nicht mehr, wie ich Agulem finden sollte – ich konnte ihn ja nicht sehen. Es machte auch keinen Sinn, ihn zu rufen, denn in der Regel antwortet Agulem nicht auf Ansprache.
    So war ich gewissermaßen selbst blind für Agulem.

    In seinem Text “Behinderung und die Ideologie des Normalen” macht der Schriftsteller und Schauspieler Peter Radtke, selbst mit einer Behinderung lebend, auf die Behinderung jedes Einzelnen aufmerksam. Nicht-Behinderung sei, seiner Ansicht nach, nur ein Augenblick und niemals ein Zustand, denn sie stelle im Grunde nur jene Situationen dar, in denen ein Mensch vollkommen eigenständig und in Unabhängigkeit von Anderen agieren kann. Radtke weist darauf hin, dass diese Situationen nur einen gewissen mehr oder weniger kleinen Teil jeden Lebens ausmachen.
    Sich selbst die Abhängigkeiten zu verdeutlichen, in denen man lebt und die eigenen Einschränkungen anzuerkennen, könne dann auch die Perspektive des Behinderten im Vergleich zu jener der Nicht-Behinderten als alternative und nicht als defekte „normale“ bewusst machen.

    Begreift man Blindheit im übertragenen Sinne als Unfähigkeit, die Perspektive eines anderen einzunehmen, wäre es nicht falsch zu sagen, dass wir, Agulem und ich, tatsächlich beide blind sind – auf unterschiedliche Weise.
    Denn so wenig wie er mich sieht, kenne ich seine Perspektive, seine Wahrnehmung. Ich habe keine Vorstellung davon, was in seinem Kopf vorgeht.

    Das machte mir besonders zu Beginn Agulems Verhalten sehr fremd und unverständlich.
    Einmal gab mir die Lehrerin eine Kiste mit einem kleinen Ball, einem Stück Kunstrasen und einem Kissen. Agulem sollte diese Gegenstände betasten. Ich nahm seine Hand und führte sie über die unterschiedlichen Oberflächen. Immer wieder zog er seine Hand zurück und ich ärgerte mich über ihn, weil das Spiel nicht funktionierte, weil er nicht reagierte und nicht mitmachte. Was ich vermisst habe war eine Antwort von ihm, in Form eines Lautes oder einer Bewegung, irgendeine Reaktion – und jetzt erst fällt mir auf, dass ich das Zurückziehen seiner Hand nicht als Antwort akzeptiert habe. Warum? Wahrscheinlich war es so, dass ich die Reaktion Agulems nicht verstanden habe, weil sie nicht dem entsprach, was ich als Antwort erhofft hätte: nämlich eine Bereitschaft zur Beteiligung.
    Ich schloss daraus vorschnell, dass man von ihm keine Antworten bekommt und wusste auch nicht, ihm Antworten zu geben, weil ich seine Äußerungen nicht deuten konnte.
    Wenn man die Lautsprache und obendrein die Körpersprache eines Menschen nicht versteht, kann das zu der Annahme führen, dass dieser Mensch gar nicht kommuniziert, dass er sein Umfeld nicht wahrnimmt und seine Empfindungen und Bedürfnisse diesem Umfeld überhaupt nicht mitteilt.

    Milchglasscheibe November 2016

    Meine Arbeit mit Agulem führt mir deutlich vor Augen, dass das ein großer Trugschluss sein kann. Ich denke, dass seine Äußerungen in Form von Lauten und Bewegungen eine ganz andere Qualität haben, die für mich schwer vorstellbar ist. Und ich meine auch, dass seine Laute keinen direkten Adressaten kennen, sondern vielleicht in erster Linie tatsächlich an ihn selbst gerichtet sind – quasi als eine Art Versicherung seiner selbst.
    Aber ich glaube, dass das Gefühl des Unverständnisses zum großen Teil an einer “Blindheit” meiner selbst lag. Diese Blindheit hat weniger zu tun hat mit physiologischer Wahrnehmung, als vielmehr mit einer Bereitschaft, die Sicht des Anderen nachzuvollziehen. Was sich so mehr und mehr relativiert, ist das Bild des nicht-sprechenden Agulem. Sein Lachen zum Beispiel kann man nur schwer falsch verstehen. Äußerungen, wie ein Lachen, oder sich Schlagen mögen Reaktionen im Affekt auf momentane Situationen sein und darin, wie ich es beschrieben habe, unadressiert.
    Es liegt jedoch, wie ich glaube, am Gegenüber, diese Äußerungen als ausschließlich selbstreflexiv aufzufassen, oder aber sie als Mitteilungen eines inneren Gefühlszustandes an die äußere Umwelt zu verstehen. Und hierin läge ja die Möglichkeit, sie aufzunehmen, sich anzueignen und sie als Aufforderung zu verstehen, zu antworten.

    Ich weiß nicht, ob glaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglagla, HANG! und mongmongmongmongmongmong tatsächlich irgendetwas bedeuten. Manchmal versuche ich aber einfach darauf zu antworten, indem ich wiederhole. Und als ich so einmal dadldadldadldadldadl vor mich her sagte, fing auch Agulem damit an.

     

     

    simonbaumgart@directbox.com

    simonbaumgart.blogspot.com

    Fotos: Simon Baumgart

    Fliegengitter / November 2016 
    Spiegelung / August 2016
    Geöffneter rechter Flügel / August 2016

    Milchglasscheibe / Nobember 2016

  • Präsentation des zweiten Almanach der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt

    Folgende siebzehn Künstler sind mit jeweils einer eigenen Arbeit (eine Arbeit ist eine Gemeinschaftsarbeit von drei Künstlern) an dem diesjährigen Werk beteiligt: Hagen Bäcker, Simon Baumgart, Thomas Blase, Nikolaus Faßlrinner, Rüdiger Giebler, Anne Karen Hentschel, Simon Horn, Nancy Jahns, Dana Jes, Michael Klante, Wieland Krause, Rita Lass, Peter Merkel, Andreas Peschka, André Schinkel, Carl Vetter, Jörg Wunderlich.

    Der Almanach liegt in einer Auflage von 30, durch die Künstler signierten, Exemplaren vor. Die einzelnen Arbeiten umfassen ein technisches Spektrum von Druckgrafik, Autografen, diversen grafischen Sondertechniken bis Fotografie.

    In den Räumen der Galerie Nord werden am 22. November der fertige Almanach sowie alle Arbeiten des Almanachs einzeln präsentiert. Seit ihrer Gründung vor fast zwei Jahren ist die Akademie bestrebt wesentliche Positionen zeitgenössischer Kunst in Sachsen-Anhalt zusammenzuführen. In dem jährlich erscheinenden Almanach bildet sich dies in greifbarer Weise ab.

    Wir laden Sie recht herzlich zu unserer Präsentation und anschließenden Gesprächen am 22. November 2016 um 19:00 Uhr in die Galerie Nord in der Bernburger Straße 14, in 06108 Halle (Saale) ein.

  • Wasja Götze, In Mitten – am Rande, Malerei und Anderes

    Wasja Götze, In Mitten – am Rande, Malerei und Anderes

    Pop-Art Künstler, Liedermacher und Bänkelsänger, freischaffender Fahrradschrauber, Bühnenbildner und Kinderbuchillustrator …
    biografische Angebote einer Einordnung in das eine oder andere katgorische Schubfach gibt es viele, denen allen sich am Ende der Künstler Wasja Götze dennoch zu verweigern scheint. Seine Begriffe von Lebensfreude und freiem Denken ließen ihn zu allen Zeiten kollidieren mit begrenzenden Ordnungsstrukturen. In der ehemaligen DDR war der Künstler mit seinen der westlichen Popart verwandten Bildern weit abseits dessen, was der sozialistische Kunstbetrieb tolerierte. Zahlreiche Künstler bildeten eine kraftvolle Gegenkultur zum Ostdeutschen Mainstream, und Wasja Götze war ein reinfarbiger Bestandteil derselben. Das graue Halle reagierte auf die farbfrohe, geistreiche und spöttisch-ironische Kunst auf halle-typische Weise – gar nicht. Nachdem bereits seine erste Personalausstellung in Halle 1976 in der Galerie Marktschlößchen auf staatlichen Druck vorzeitig geschlossen wurde gab es bis zur Wende nur wenig Gelegenheit, seinen Werken zu begegnen. Und auch nach der Wende blieb es eher still um den Freigeist und künstlerischen Rebellen. Um so erfreulicher daß nun zwei Ausstellungen in Halle sich mit Leben und Kunst von Wasja Götze befassen.

    Porträt B.E.G. oder Ich bin von Kopf bis Fuß, 1998, Öl auf Hartfaser, 100 x 60 cm
    Foto: Friedrich Götze ©Wasja Götze

     

    KUNSTFORUM HALLE
    Bernburger Straße 8, 06108 Halle (Saale), Telefon 0345 685766-0, www.kunstforum-halle.de
    Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr 14–17 Uhr, Do 14–19 Uhr,
    Sa, So und Feiertage 11–17 Uhr, Eintritt frei

    Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)
    Friedemann-Bach-Platz 5, 06108 Halle (Saale), Telefon 0345 2125968, www. kunstmuseum-moritzburg.de
    Öffnungszeiten: Mo., Di., Do.–So./Feiertage
    10–18 Uhr, Mi. sowie am 24.12. und 31.12. geschlossen
    Eintritt im Ticket zur Dauerausstellung
    (7 Euro/erm. 5 Euro) enthalten