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  • Almanach 2015

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  • 1. Akademie-Rede zur Almanach-Präsentation: „Maieutik und Bodenprobe“ von Silvio Beck, März 2016

    Die Hebammenkunst, griechisch maieutikḗ, darf wohl als eine der ältesten und zugleich immer wieder unterschätztesten Kunstformen gelten. Eine Kunstform, die sich ganz konkret auf das martialische Wunder der gelingenden Geburt bezieht und seit den Tagen, da ein anderer Grieche, ein, wie man hört, sehr trinkfester Bildhauer mit dem Namen Sokrates seine Bereitschaft aufkündigte, den äußerst opaken, dichten, undurchdringlichen, scheinbar evidenten Notwendigkeiten und oftmals damit einhergehenden irrigen Gedanken blind Gefolge zu leisten, spätestens seit diesen Tagen also ist mit dem Wort Geburtshilfe das schöne Wagnis beschrieben, sich wechselseitig hervorzubringen, ins Dasein zu rufen. Das entscheidende Medium dieses wohl prinzipiell unabschließbaren Geburtsaktes ist das gemeinsame Gespräch. Hier haben wir zwei wichtige Motive, damals wie heute, die Wesentliches aussagen über den Willen eine Akademie zu gründen: das Gespräch und die daraus resultierende Fähigkeit sich in freier Assoziation zusammen zu schließen, in der Gründung sich selbst zu begründen durch die Vergegenwärtigung und Wahrnehmung des jeweils Anderen, dem Hören aufeinander und die daraus folgende Lust an der gemeinsamen Tat. Denn, wie Bazon Brock mit Blick auf den ursprünglichen Sinn von Akademien formuliert: die freie Assoziation ist die einzige Form in der man zusammen den Versuch unternehmen kann, selbst zu erfüllen, was man von sich und der Welt erwartet. Doch wie kommt es, dass ein disparater wilder Haufen unterschiedlichster Künstler sich freiwillig in diesen Prozess begibt, ja sich einer gemeinsamen Idee verschreibt? Ich denke, ich gehe nicht zu weit, einmal stellvertretend zu formulieren: es ist allen Gründungsmitgliedern schlichtweg ein echtes Bedürfnis!

    Ich möchte nun im Folgenden einige Niederungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Geländes durchqueren, Aspekte der unumgehbaren Kontexte beschreiben, eine Skizze vornehmen, die als Entwurf einer Standortbestimmung, als Bodenprobe gewissermaßen ins Labor gehen kann.

    Ich verwendete den Begriff der freien Assoziation, also einer Gemeinschaft, die an einer gemeinsamen künstlerischen Form arbeitet, in dem sie sich freiwillig selbst verpflichtet. Doch was ist Freiheit heute? Wie steht es mit der durch das Grundgesetz garantierten freien Entfaltung der Persönlichkeit und der darüber hinausgehenden geistigen, schöpferischen Freiheit in der Gegenwart? Angesichts der Dynamik des technisch-wissenschaftlichen Komplexes und der Herrschaft der Ökonomie, die alle Lebensbereiche durchdringen, sie formatieren und schlussendlich ihren Bedingungen unterwerfen, zeigt sich doch zunehmend glasklar, dass sie, die Freiheit, in der Eigenlogik der Systeme zu verschwinden droht. Doch damit nicht genug: der Philosoph Byung-Chul Han diagnostiziert einen bereits vollzogenen Übergang von der Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft. Er entdeckt einen geradezu mephistophelischen Widerpart der Freiheit, eine anonymisierte Macht, die durch uns hindurchgeht, die uns bestimmt, deren Verführung uns gerade in unserem Freiheitsdrang schmeichelt. Die smarte Macht, so Han schmiegt sich der Psyche an, statt sie zu disziplinieren. Diese freundliche Macht ist gleichsam mächtiger als die repressive. Sie entzieht sich jeder Sichtbarkeit. Die heutige Krise der Freiheit bestehe darin, dass wir es mit einer Machttechnik zu tun haben, die die Freiheit nicht negiert oder unterdrückt, sondern sie ausbeutet. Peter Sloterdijk wiederum zeigt unter dem zum Motto geronnenen Rilke-Zitat „Du musst Dein Leben ändern“ wie eine Jahrtausende alte Erfolgsgeschichte des Übens den Menschen durch unvergleichliche Selbstoptimierungsprogramme zu dem machte, der er jetzt ist. Das heißt aber auch, dass er diejenigen Systeme hervorgebracht hat, mit denen er sich nach Byung-Chul Han jetzt umfassend ausbeutet. Die heute von fast jedem geforderte Selbstoptimierung dient nicht mehr der Frage nach dem guten und freien Leben, ist nicht Zweck in sich selbst, sondern dient dem Mehrwert der globalen Ökonomie, der Markteffizienz. Ein neues Reich der Fremdbestimmung zeichnet sich ab. Die Spuren ziehen sich durch fast jede zeitgenössische Biografie. Denn, wie der Theatermacher René Pollesch bissig formuliert: das Innere ist der Konsens. Indem Sehnsüchte, Wünsche, Vorstellungen, Impulse und Entscheidungen durch umfassende Markt-gesteuerte Bildprogramme und Erzählungen, durch ökonomische Bedingungen und Bedürfnisse kolonisiert werden, diese Kolonisierung als das menschliche Selbst ausgegeben wird, betritt heute jeder die Bühne des Konflikts des Dramas der Freiheit. Die gesellschaftliche Software heißt Freiheit, die Hardware Ökonomie. Das ist die Situation des alltäglichen Markt-Terrors.

    Ist die Kunst nun ein Subsystem der Ökonomie, erfolgreich integrierter Lifestyle, Aufplüschung des Standortmarketings, kreativwirtschaftliche Produktmaschine, Bewußtseins-Spedition oder eine höchst individuelle Poetik, die gleichsam ins Universelle zielt und aus dem Universellen schöpft? Ich möchte mit Jorge Luis Borges antworten: „Wenn ich schreibe, versuche ich dem Traum und nicht den Umständen treu zu sein.“ Also: der Künstler riskiert sich selbst, er entscheidet sich für das Wagnis, eben nicht den Umständen treu zu sein, sondern dem Nichtwissen, dem Unbekannten. Er gewinnt dabei eine Treue zu dem unentwegten Versuch die Enge der Verhältnisse zu überwinden und einen neuen Raum, einen Gegenraum zu betreten, eine ebenso intime wie universelle Unendlichkeit. Dieser Gedanke spielte gerade in dem Kulturkreis, dem sich die Ländergrenzen des heutigen Sachsen-Anhalt eingraviert haben, eine entscheidende Rolle. Novalis erlebte und bezeugte den Menschen als Spiegelbild des gesamten Kosmos. Knüpfen wir doch daran an. Spinnen wir den Faden weiter. Treten wir in den Gesprächsraum dieses Kulturkreises ein. Erweitern und transformieren wir ihn aus unserer eigenen Arbeit heraus. Trinken wir hin und wieder ein Gläschen mit den Toten. Erzählen wir ihnen, dass dort wo sie uns das Bewußtsein für die Einheit des Verschiedenen überliefert haben, wir die Unversöhnbarkeit der Weltfragmente erleben. Und das trotzdem die nicht erzwingbare Unmittelbarkeit des Ganzen die imaginäre Fluchtlinie unserer Suche bleibt. In einem Gespräch, dass die Akademiemitglieder Thomas Blase, Wieland Krause, Andre Schinkel und Jörg Wunderlich geführt haben und das auf der Homepage des Netzwerks und Magazins Hallesche Störung nachzulesen ist, sagt Wieland Krause folgendes: „Das Zeitgenössische ist aber das Zukünftige, was sich an der Wurzel misst. Das ist wesentlich. Und wenn das nicht mehr stattfindet, ist das verheerend, eine Lücke also, die keine Zukunft findet.“

    Für solcherart Standortbestimmung, Selbstvergewisserung, Selbstbefragung brauchen wir das Gespräch. Das Gespräch als Denk- und Erfahrungsraum, als Ereignis sich einander zu erkennen gebender Menschen. Die Präsentation des ersten Almanachs schreibt sich ein in das begonnene Gespräch als erste öffentliche Aktion der neu gegründeten Akademie der Künste Sachsen-Anhalt. Sinnlich, konkret, haptisch, geistig!

    Verehrte Gäste, auch wenn ich das herrschende Paradigma einer totalen Ökonomisierung als Menetekel unserer Zeit diagnostiziert habe, möchte ich sie dennoch darauf hinweisen, dass die Ausgaben des Almanachs selbstverständlich käuflich erworben werden können. Und glauben sie mir, diesmal erhalten sie für ihr Geld wirklich etwas Unbezahlbares.

  • Präsentation des ersten Almanachs

    Die Akademie der Künste Sachsen-Anhalt stellt ihren ersten Almanach vor.
    Wir laden herzlich zur Präsentation und anschließenden Gesprächen in die Galerie Nord in Halle ein.

    Teilnehmende Künstler/Autoren sind in diesem ersten Jahrgang ausschließlich Mitglieder und korrespondierende Mitglieder der Akademie. Der Almanach umfasst 12 Beiträge von 13 Künstlern und Autoren (eine Gemeinschaftsarbeit) in einer Größe von 355 mm x 320 mm und wird in einer Auflage von 30 handgebundenen Exemplaren vorliegen. Alle Beiträge des Almanach tragen Originalcharakter und sind von den Künstlern einzeln signiert. 12 Exemplare der Ausgabe können zu einem Einzelpreis von 750,00 € käuflich erworben werden.

    Zur Einführung spricht Silvio Beck (1. Akademie-Rede)

    Am Almanach beteiligte Künstler/Autoren sind:
    Hagen Bäcker, Thomas Blase, Moritz Götze, Nancy Jahns, Lado Khartishvili, Michael Klante, Wieland Krause, Dietrich Oltmanns, André Schinkel, Emanuel Schulze, Dr. Johannes Stahl, Carl Vetter und Olaf Wegewitz.

     

  • Fundstücke_Fenster_ Jan2016

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  • Stadt meiner Kindheit

    Die Grafikerin Susanne Theumer und der Autor André Schinkel stellen am 21. Januar in Halle ihr gemeinsames Künstlerbuch „Stadt meiner Kindheit“ vor, an dem sie im zu Ende gehenden Jahr gearbeitet haben und das vor kurzem erschien. Gegenstand des Werks ist die Beschäftigung mit den Phänomenen Heimat und Herkunft im speziellen Hinblick auf Halle-Neustadt. In der Neubaustadt wuchs die Künstlerin auf – sie war Ausgangspunkt der meisten Radierungen und Texte. Schinkel liest Miniaturen und Gedichte aus der Publikation sowie neueste Texte. Beide Künstler wurden für ihre Arbeit wiederholt ausgezeichnet, Gedichte und Essays Schinkels wurden in 16 Sprachen übersetzt; Susanne Theumer arbeitete mit verschiedenen Autoren, darunter Les Murray, der Nobelpreisträger Imre Kertész und Péter Nádas, zusammen, sie wurde u. a. mit dem Hans-Meid-Preis geehrt.

  • Chris Jarrett, live in Halle

    Dieses Konzert wurde unterstützt durch die Akademie der Künste Sachsen-Anhalt. Vielen Dank an Salar Ghazi für die Videos.

  • Streetart in Exarchia: Spaziergangsfundstücke aus Athen

    Streetart in Exarchia: Spaziergangsfundstücke aus Athen

    Während eines Spaziergangs durch das linke Athener Stadtviertel Exarchia an der Seite eines ortskundigen Menschen, der vordergründig über die sozialen Protestbewegungen sprach, die vielmals in diesem Viertel ihre Anfänge und auch Abgänge fanden, fielen mir die ungemein lebendigen Hauswände auf. Mit meinem Urlaubsknipser in der Hand habe ich bestimmte Momente festgehalten. Die Fotografien zeigen in ihrer Summe einen Ausschnitt, der stark geprägt ist von der Stimmung, in der ich mich befand, während ich sehr angetan und aufgeregt durch diese Straßen geführt wurde. Einem Anspruch auf ein repräsentatives oder gar vollständiges Bild kann meine Fragmentesammlung keinesfalls gerecht werden. Aber einen Eindruck kann sie vermitteln. Meinen nämlich.

    Oré: Athen ist eine schlafende Schönheit, die auf ihre Stunde wartet Und: Athen, die Stimme deiner Kinder ruft dich
    Anonym: change is around the corner

    Athen als Streetart-Metropole

    Wenn man durch Athen läuft, kommt man nicht umhin Graffiti und Streetart zu bemerken. In bestimmten Vierteln wird man gar schwerlich eine leere Wand finden. Streetart hat in Athen seit ca. 2006 einen enormen Boom erlebt. In etwa also, als die wirtschaftliche Krise leise sich bemerkbar machte. Zwar gab es auch vorher, wie in nahezu jeder größeren Stadt, Graffiti, doch keinesfalls in einem Maße wie heute. Die Möglichkeiten der griechischen Hauptstadt erregen seitdem Aufmerksamkeit in der internationalen Szene. Man trifft auf einige bekannte Tags, wie die der Berliner Crew 1Up. Athen ist zu einer internationalen Spielwiese geworden. Auch für den Balinesischen Streetartist Wild Drawing, der mit seinen großformatigen Arbeiten sehr präsent ist.

    Wild Drawing: Avatar. Welcome to Athens

    Es scheinen sich die Athener nicht sonderlich an den ungefragten Übergriffen auf das Stadtbild zu stören. Schlecht übermaltes oder entferntes Graffiti habe ich kaum gesehen. Stattdessen erzählt man Geschichten wie über den Künstler INO, der von der Polizei wegen eines großen Wandbildes festgesetzt wurde, um eine Woche später von dem Hausbesitzer für seine Arbeit bezahlt zu werden. Scheinbar können Streetartists meist jedoch recht ungehindert ihrem Werk nachgehen, ohne dass Polizei oder Anwohner sie selbst am Tag daran hindern würden. Anders hätten bestimmte Bilder auch nicht entstehen können.

    Dreyk the pirate

    Dreyk the pirate, der bereits seit 1999 seine Matrosen und Piraten in Athen verteilt, gilt als einer der Pioniere der Streetartszene. Er arbeitet als Illustrator unter anderem für das populäre freie Magazin LIFO.
    Fassaden als Leinwände zu begreifen, bekommt in dem alternativen Stadtviertel Exarchia nochmal eine ganz andere Bedeutung, wenn Künstler mit einem Pinsel vor der Wand stehen und sich einer Situation hingeben können, die zwar auch nicht ohne den Nervenkitzel des Verbotenen ist, aber dennoch die Freiheit lässt sich auf den malerischen Prozess einzulassen. In Exarchia vermischen sich Graffiti, Streetart und schnelle Parolen. Das Themenspektrum reicht von der klassischen Signature bis zu nervtötend häufigen Liebesbotschaften. Alle Formen von Streetart, vom Stancil bis zum Sticker und Poster, sind vertreten. Exarchias Straßen sind wie ein Lehrbuch – und dies nicht allein bezüglich Fragen an Urban Art. Man findet alles in den Straßen. Auch den größten Unfug und Albernheiten. Parolen werden kommentiert und Graffiti gecrossed. Aber genau diese Vielfalt lässt ein Gefühl von Freiheit und Lebendigkeit wachsen, das ungemein inspirierend ist.

    Eine Seitenstraße in Athen, die das chaotische nebeneinander von Graffiti und Streetart spiegelt

    Graffiti als politischer Kommentar

    Sowohl gesprühte Tags als auch einzelne Wandbilder erscheinen häufig als unmittelbare Reaktion auf politisches oder gesellschaftliches Geschehen. Sie finden am unmittelbaren Ort ihren Ausdruck, da, wo die Leute leben und wo sie ihre Inhalte als Botschaften platzieren wollen, um wahrgenommen zu werden. In einer Stadt, wo aktuelle Politik eine derart spürbare Brisanz hat und parlamentarische Politik eine starke Öffentlichkeit, ist auch der politische Bezug an den Fassaden der Stadt sehr präsent. Die Inhalte der Parolen wiederholen sich, doch ihr Ausdruck ist sehr verschieden, sieht man von den unzähligen Anarchie-, ACAB- und Fuck-the-Police-Tags ab. Gerade in Exarchia findet man zahllose anarchistische Slogans. Viele andere Tags beziehen sich auf die Gesellschaft und üben Kritik an verschiedenen gesellschaftlichen Systemen und Wertvorstellungen, verlangen nach Veränderung und proklamieren Missstände.

    Anonym: Gegeninformation ist eine Waffe

    Anonym: Scheiß auf die griechische Familie. Ein Kommentar gegen das immer noch aktuelle Bild der überfürsorglichen, omnipräsenten griechischen traditionellen Familie

    Anonym: Das Bildungssystem lehrt das System. Als Kritik am Bildungssystem, das nicht frei sei, sondern bloß systemkonforme Werte vermittle

    Anonym: Wer nichts hat worauf er stolz sein kann, verfällt auf Nationalstolz. Dazu ein Bild von der griechischen Fußballnationalmannschaft

    Doch daneben steht eine Bandbreite politischer Kommentare, die sich sichtbar vordergründig auf die aktuelle Krise und den Umgang mit dieser seitens der offiziellen Politik beziehen. Sie spiegeln einen politischen Unmut und soziale Unzufriedenheit wider. An den Hauswänden findet ein konstruktiver politischer Diskurs statt abseits von Frustration und Enttäuschung, aber dennoch geprägt von Wut und Hoffnung. Nicht selten vermittelt durch Humor und Selbstironie.

    Lotek: Dear capitalism

    Anonym: Euro

    Anonym: Merkel Maus

    Oré: Von der Antike bis zur Moderne: Wer kontrolliert das Geld?

    Anonym: Venceremos

    Wild Drawing: Euro

    Anonym: Bankautomat mit Testbild

    Rechts: Anonym: Tsipras Christ. Links: Anonym: Linke Halluzinationen

    Dabei lesen sich die einzelnen Stücke wie die Kommentarseite einer Tageszeitung. Tsipras als Messias dürfte wohl bereits älter sein, während sich der Bankomat mit dem Testbild klar auf die andauernden Kapitalsverkehrskontrollen bezieht. Die Austeritätspolitik und die Frage nach dem Verbleib in der Eurozone spiegeln sich wieder. Die Zeit vor dem Referendum wiederum hat in Exarchia Forderungen nach einer klaren Antwort hinterlassen.

    Oxi

    Oxi

    Urbane Legenden

    Ein häufiges Merkmal von Streetart ist, dass sie einfach zu lesen ist. Man muss nur wach sein und vielleicht ab und an eine Tageszeitung in den Händen gehabt haben, um die sarkastischen Kommentare, bissigen Anspielungen und romantischen Botschaften zu verstehen. Für einige andere wiederum bedarf es eines gewissen Insiderwissens, um den anekdotischen Charakter entschlüsseln zu können.
    Man erzählte mir, die Steetartists ließen sich im Wesentlichen in vier Kategorien einteilen: Studierende der bildenden Künste, Designer, Tattookünstler und Zahnärzte. Einer aus letzterer Kategorie ist der Streetartist MaPet.

    MaPet: Fifi, Gift den Faschisten. Darüber ein Poster eines anderen Streetartist : Die Babies bringt nicht der Storch

    Im Griechischen gibt es verschiedene Worte um ‚vergiften‘ näher zu beschreiben. In diesem Fall beschreibt das Wort den Vorgang Gift ins Essen zu tun, so wie man es mit Straßenhunden macht. MaPet verwendet oft bekannte Symbole und Figuren, um über den Wiedererkennungswert klare Reize zu triggern. Auch Fifi ist so eine, den meisten Griechen bekannte Figur.

    Anonym: RIP Killah P. Graffito an der Wand der Polytechnischen Universität

    Der Rapper MC Killah P wurde 2013 von einem Anhänger der neonazistischen Partei Goldene Morgenröte erstochen, als er mit Freunden in einem Café ein Fußballspiel verfolgte. Killah P lässt sich der Antifaschistischen Szene zurechnen, sodass sein Mord als politisch motiviert gilt und dementsprechend heftige Reaktionen in der Szene und krasse Demonstrationen zur Folge hatte.

    Asteras Exachrion (Stern von Exarchia). Die Treppe, die zum Stadion führt

    Asteras Exarchion ist ein Fußballverein, dessen Fanschaft sich vor allem aus der linken anarchistischen Szene rekrutiert. Der Verein nimmt keine Eintrittsgelder bei Spielen im eigenen Stadion. Die größte Vereinsparty dürfte wohl der Wiederabstieg in die dritte Liga gewesen sein.

    Ein Grafitti, zu dem ich kein Foto habe, von dem ich aber dennoch erzählen möchte, weil die Geschichte zu legendär ist, ist dem „Riot Dog“ gewidmet. Loukarnos (= Würstchen) wurde zum Maskottchen der Anarchisten. Als adoptierter Straßenhund engagierte er sich aktiv auf Protesten und Demonstrationen, bellte immer in der ersten Reihe und entwickelte wohl etwas wie eine Tränengasresistenz. Loukarnikos konnte Polizisten nicht sonderlich leiden und verteidigte die Demonstranten. Die Inschrift in dem Graffiti an einer verlassenen Feuerwehrstation in Psirri lautet: „Wir haben das Tränengas gemeinsam gefressen!“ und „All dogs go to heaven“. Gemalt von: Smart, N-Grams und Martinez.

    Im Endeffekt passiert auf Exarchias Freiflächen weder etwas Überraschendes noch etwas Neues. Es ist vor allem die Dichte, die explizite Vielfalt und eine gewisse Dringlichkeit, die beeindrucken. Denn beeindruckend ist dieses Viertel, dessen spannende Atmosphäre sich nicht zuletzt aus den Graffiti speist. Denn es sind Exarchias Menschen, die durch sie sprechen.

    Stadtbild

    Ikarus

    Eine Auseinandersetzung mit Streetart in Athen findet an zahlreichen Stellen statt. Hier ein Link zu einer Kurzdoku mit englischen Untertiteln, die einen recht guten Überblick gibt.

     

  • Murmur, oder: Vom Rascheln der Gegenstände

    Oft hatte ich verdorrte Tage zu Gast,
    ein Baum, des Blühens müde,
    doch immer fand ich die Muse noch
    und stand im Regen neuer Begierden.

    Werner Makowski, Initiale

    In der Camera silens der Jetztzeit ist es leicht, verloren zu gehen an sich selbst. Das Murmeln der Stille erhebt sich über dem Rauschen vorgegaukelter Notwendigkeiten; der Wahnsinn, der aus der Angst, auf uns selbst geworfen zu sein, kommt, revoltiert in den Organen, die, wie wir glauben, gekühlt im Vakuum rotieren und am schönen Anschein festgemacht sind. Nichts Größeres, heißt es, auf der Welt als ein Berg aus heißer Luft, in der sich die Broilerspieße der Epoche behäbig drehen; in jedem Hintern brennend ein Haken, der Gedanke an die Erlösung durch Sinn und Aufregung fern. Gut ist es, wenn man einen Hügel weiß, der das Wabern sanft übersteigt, und sei es die zweite Welle, die auf den Harz zuläuft, ein Wellchen, der Huy. Auf dem Huy herrscht noch, so will man glauben, eine andere, gehaltvollere Stille, hier lebt Olaf Wegewitz, zimmert, malt, zeichnet an seinen Mikrokosmen, die den Weg durch die Zeiten offenhalten. Was man, sei es durch die Kunst oder durch seine bloße Nennung, festsetzt, ist anwesend, unabhängig von seiner eigentlichen Zeit. So etwa formuliert Wegewitz das Credo; das Rascheln der Gegenstände ist durch die Zeiten existent und von ihrem Ausdruck und Status, der sich zufällig Gegenwart nennt, nicht getrennt. Die eigentliche Zeit ist keine andere als vor sechs oder acht Jahrhunderten, und dieselbe, jetzt, ehedem, ungeschieden. So nimmt es nicht wunder, daß der Künstler in diesem für heutige Blicke monumentalen Kaleidoskop die Naturalia Megenbergs teils bruchlos, teils gespiegelt fortschreibt und so ein Itinerar über die stetige Brandung der Ären hin schafft. Aber von vorn. Mikrokosmos. „Daz ist das puch der natur / oder uon den / natürlichen dingen.“ Das Sichtbare also, jenes, dem Menschen zu eigen, wenn er schweift, den Blick um sich dreht. Auch: was den Augen gefällt. Das Murmur – des Erwünschten. In einem weiteren Buch, dem Erbauungsbuch der Ebin Anders, ergänzt Wegewitz den Anspruch um die mystische Komponente. Wie die Handschrift von Megenberg, derer sich mikrokosmos bedient, stammt jene aus den Träumen und Visionen einer Nonne aus der reichen Wolfenbütteler Sammlung, die den Schatz des alten Wissens bis in die Gegenwart aufhebt. Beide Werke, gewissermaßen als Geschwister, fungieren als Werkzeuge einer schier selbstverständlichen Teleportation an die mageren Strände der Erwartung, die uns in diesen trüben Wochen und Jahrzehnten bleiben. Sie wirken, aus dem Stimmengewirr der sich schichtenden und richtenden Lagen aus Zeit, in den Bänderton unserer Blicke gebracht, wie aus dem Ganzen geschnitten, gegossen, ja, gewirkt. Bereits die Interieurs: eine grobe Fasrigkeit, die reiche Fülle zu bergen, hier; ein zartes Bündel, in Eisen gefaßt, dort; weist uns an die Gründe einer solchen Bewegung – das Umfassende zu hüllen nämlich und in Sicherheit zu bringen. Unsere Träume wie auch die Natur sind, beides zunächst als Allgewalten mißgedeutet, zerbrechlich unter dem Auge unserer kühnen Überheblichkeit. Es ist wie Lascaux zerlatschen mit unserer Zeit oder in der Grotte Chauvet randalieren: die beschuhten Füße schieben sich überreizt durch den uralten Schlamm, der die Fährten der Ahnen wie Schätze bewahrte, für das Jetzt bereithielt. Wir haben unser mikrokosmisches Gespür verloren, so scheint es. Den Gegenbeweis dafür tritt Olaf Wegewitz mit seinem Buch an. Oder er zeigt uns, wie dieser Gegenbeweis zu führen wäre. Wegewitz, der noch tatsächlichen Umgang mit den Dingen pflegt, Olaf Wegewitz betätigt sich als Abbildner und Fortschreiber dessen, was der Menschenwelt unterfüttert ist und zunehmend in einen Abyss aus Erklärungssuche und dem Aufgeben dessen, dass man im Einklang mit dem Hintergrundrascheln bleibt, gerät. Apfel und Fisch, Biene und Blume, die lufft und die Wurzel als das in den Erdschlössern schwebende Menschenhaupt sind die Orte und zugleich Ausgangspunkte dieser Erwägung. Das Rauschen der Dinge, die Mechanik des Kopfes. Das Schimmern des fortlaufenden Texts über der Zeit, in die Briquetagen des Wissens geformt, unseres Ahnungsvoll-Seins, luftig und schwer, ein verlöschender Segen, fahl, zwischen Irrlicht und gedimmter Vernunft. Dem Reichtum der Dinge, seien sie unbelebt oder belebt, auf der Spur, ihrem Flackern im Buch der Natur. Wegewitz – ein Tonsetzer des Sicht-, des Erklärbaren? Gewiß, das auch. Der Beseeltheit zudem, deren Erkenntnis den Menschen für ihr Fortkommen unerlässig sein wird. Mit der Akribie eines Naturbeschreibers faßt er das Wissen über die Textur der Gegenstände zusammen, liefert mit seinen Mitteln ein umfassendes Panorama ihrerselbst. Wir entkommen damit, und sei es nur für den Moment, da der mikrokosmos sich öffnet und uns in die Anderswelt unseres Eigentlichen einlädt, auf dem windigen Huy, in der Sichtung der restlichen Welt, der Camera silens der Zeit.